Montag, 10. September 2018

Zur Leichtathletik-Europameisterschaft 2018 in Berlin

Gibt es „deutsche“ Disziplinen?

Dank Jacob und Wilhelm Grimm kennen wir seit 1812 den deutschen Märchenschatz. Wie Journalisten sind die Brüder durch Hessen getigert und haben alle guten und bösen Geschichten aufgeschrieben, die sie von der Bevölkerung aufschnappen konnten – Hauptsache, es war spannend und ein bisschen gruselig. Grimms Märchen sind keine Gute-Nacht-Geschichten für Kinder, und politisch korrekt sind sie auch nicht. Mein Papagei liebt Grimms Märchen aber, weil immer wieder Kollegen aus dem Tierreich eine Hauptrolle haben: Das Erdmännchen, das Eselein, das Meerhäschen, der Wolf und die sieben jungen Geißlein, das Kätzchen des armen Müllerburschen und natürlich der Froschkönig, der eine sagenhafte Karriere hinlegt. Dass das Rotkäppchen vom bösen Wolf angeknabbert wird, findet mein Papagei allerdings schlimm und empfiehlt dem Mädchen, sich der #MeToo-Bewegung anzuschließen.

Kein Grimmsches Märchen und dennoch märchenhaft war die Leichtathletik-Europameisterschaft in Berlin im Rahmen der European Championships. Zwar nahmen daran nicht nur Froschkönige teil, sondern auch Diskus-Olympiasieger Christoph Harting, der seinem ungeliebten Bruder Robert dadurch aus dem Wege ging, dass er im Vorkampf ausschied. Oder der Dreisprung-Titelverteidiger Max, der Heß heißt, obwohl er aus Chemnitz in Sachsen stammt, und im Vorkampf auch keine vernünftige Weite zustande brachte. Oder Raphael Holzdeppe, der Stabhochsprung-Weltmeister von 2013, der drei Mal unter der Latte durchsprang und im Finale zuschauen durfte, wie der 18-jährige Schwede Armand Duplantis mit 6,05 Metern Junioren-Weltrekord sprang und Gold gewann.

Von Speerwerfern und Zehnkämpfern

„Gibt es eigentlich deutsche Disziplinen?“, wollte mein Papagei wissen. Ich vermutete hinter dieser Frage einen Gedanken von Gaulandscher Blässe und sperrte meinen Papagei sofort in seinem Käfig ein, ohne Wasser und Haferflöckchen, denn man muss bei derartigen Ideen den Anfängen wehren. Mein Papagei argumentierte aber aus dem Käfig heraus mindestens so gut wie damals Uli Hoeneß. Ihm sei aufgefallen, dass deutsche Athletinnen und Athleten im Speerwurf und im Mehrkampf oft erfolgreich seien, während die Männer in all den beschwerlichen Disziplinen, bei denen man laufen muss, anderen vornehm den Vortritt ließen. Das hat mich überzeugt und neugierig gemacht. Deshalb schenkte ich meinem Papagei nach zwanzig Minuten die Freiheit, und gemeinsam machten wir uns an die Recherche.

Es stimmt! Im Speerwurf gab es, Frauen und Männer auf sittsame Weise kumuliert, seit Gerhard Stöck 1936 schon acht Olympiasieger, Ruth Fuchs hat 1972 und 1976 sogar zwei Mal gewonnen. Christin Hussong und Thomas Röhler sind die Europameister Nummer elf und zwölf. Klaus Wolfermann (94,08 m), Uwe Hohn (104,80 m, beide mit altem Speer) sowie Klaus Tafelmeier (85,74 m mit neuem Speer) sind deutsche Weltrekordler. Erinnert sei an die Studenten-Weltmeister Hermann Rieder (1951 und 1955) und Helmut Schreiber (1979 mit 92,72 m). Der Gaiberger Professor Rieder war Wolfermanns Trainer beim Olympiasieg 1972 in München, bei jenem prickelnden Duell mit dem Letten Janis Lusis.

Im Zehnkampf ist der Ulmer Arthur Abele der dritte Europameister nach Hans-Heinrich Sievert (1934) und Werner Graf von Moltke (1966). Olympiasieger sind Willi Holdorf (1964), Christian Schenk (1988) und Thorsten Voss (1987). Die beiden Letztgenannten zählten zu den Hauptfeinden der westdeutschen Sportpolitik vor der Wiedervereinigung; sie waren DDR-Athleten.

Den Weltrekord haben deutsche Königsathleten sechs Mal verbessert: Hans-Heinrich Sievert (7147 Punkte) 1934 in Hamburg, Kurt Bendlin (8235) am 13. und 14. Mai 1967 im Heidelberger Uni-Stadion, Guido Kratschmer (8667) 1980 in Filderstadt und der unvergleichliche Jürgen Hingsen, der 1982 in Ulm 8741 Punkte erreichte, 1983 in Filderstadt 8825 Punkte und 1984 im Mannheimer MTG-Stadion 8832 Punkte, ehe er bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul drei Fehlstarts über 100 Meter hatte.

„Warum wohl?“, stellt mein Papagei eine Frage, die man westdeutschen Athleten eigentlich nicht stellen sollte, um das Märchen von den „Guten“ nicht auszuradieren.
 
(Aufgespießt am 18. August 2018)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen