Freitag, 20. November 2020

„In der Pandemie ein offener Ratgeber für die Politik“

 Interview mit Hauptgeschäftsführer Ulrich Derad vom LSV Baden-Württemberg

Der 55-jährige Ulrich Derad ist in Rottweil geboren und seit 2012 Hauptgeschäftsführer des Landessportverbandes Baden-Württemberg. Derad war Linksaußen im Handball und spielte von 1986 bis 1997 für Frisch Auf Göppingen, VfL Gummersbach, TuS Nettelstedt und Bayer Dormagen in der Bundesliga. Mit Gummersbach war er 1991 deutscher Meister. Für die deutsche Nationalmannschaft bestritt er 22 Länderspiele. Nach seiner aktiven Laufbahn wurde er Sportlicher Leiter und Hauptgeschäftsführer in Dormagen und 2009 Geschäftsführer der Spielbetriebs-GmbH von THW Kiel.

 

Herr Derad, viele Sportfunktionäre beschäftigen sich mit den Auswirkungen des Coronavirus auf den Sport. Haben Sie im Februar 2020 geahnt, welche schwerwiegenden Folgen die beginnende Pandemie auf den Sport haben könnte?

 

Schwierig. Mir war zwar bewusst, dass sich da etwas zusammenbraut, aber in diesem Ausmaß habe ich es nicht kommen sehen.

 

Wann war Ihnen klar, dass die Olympischen Spiele in Tokio 2020 nicht stattfinden können?

 

Nachdem wir die ersten Rückmeldungen der Sportwelt und der sportmedizinischen Untersuchungszentren erhalten haben, habe ich mir so etwas schon gedacht. Schlussendlich wurde es mir aber mit der sich immer weiter zuspitzenden Situation um Qualifikationswettbewerbe zu den Olympischen Spielen klar. Im Sinne des Sports wäre es unter diesen Umständen auch nicht hilfreich gewesen. So hatten viele Weltklasseathleten bis dato noch keine Qualifikation, und Olympische Spiele ohne diese Athleten ist kein Olympia.

 


Halten Sie es für realistisch, 2021 Olympische Spiele auszutragen?

 

Ich denke, unter bestimmten Voraussetzungen ist das möglich und wünschenswert. Es wird aber etwas ganz anderes als die Athleten es kennen. Das große Fest der Begegnungen kann es schon aus Infektionsschutzgründen wohl nicht geben. Der Austausch untereinander ist aber neben dem Kräftemessen in den jeweiligen Disziplinen ein großer Bestandteil der Spiele. Grundsätzlich halte ich es für wichtig, dass die Spiele trotz aller Einschränkungen stattfinden – gerade für die Athleten.

 

Der LSVBW vertritt den baden-württembergischen Sport gegenüber der Politik und ist Gesprächspartner des Ministerpräsidenten und der Ministerinnen und Minister. Ist der LSVBW auch Ratgeber der politischen Entscheider?

 

Wenn es um die politischen Fragestellungen geht, ist der LSVBW ein offener Ratgeber für die Politik. Wir versuchen, stets in einem guten Austausch mit den jeweiligen Institutionen und Vertretern zu stehen. Nur durch diesen guten Austausch sind wir auch in der Lage, Entscheidungen zu beeinflussen. In der Krise zeigt sich das ganz besonders. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht mit den zuständigen Ministerien in Kontakt stehen, um unserer Rolle als Vertreter des Sports gerecht zu werden – mit Erfolg, denke ich, wie es Anpassungen in den Verordnungen, Öffnungen oder Auflagen von Finanzhilfen des Landes zeigen.

 

Sie gehören einer Expertengruppe an, die über die Corona-Landesverordnungen für den Sport berät. Wie intensiv ist die Zusammenarbeit mit den zuständigen Ministerien Soziales und Gesundheit sowie Kultus, Jugend und Sport?

 

Nicht in einer Expertengruppe, aber wir stehen in einem intensiven Austausch mit den zuständigen Ministerien und tun, was wir tun können – übrigens auch in engem Austausch mit den sportmedizinischen Zentren, um unsere Anliegen entsprechend zu unterlegen. Unser Austausch mit dem Sportministerium ist sehr konstruktiv. Das bedeutet allerdings nicht, dass alles so umgesetzt wird, wie wir uns das wünschen. Da gibt es noch weitere Gremien über das Sportministerium hinaus, die schlussendlich entscheiden.

 

Zum Sportministerium hat sich, nicht zuletzt durch die langjährige Zusammenarbeit im Präsidialausschuss Leistungssport des LSVBW, ein gutes, ja freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Wie bewerten Sie die Kooperation?

 

Wie bereits erwähnt, sind wir als politische Interessensvertretung an einem guten Verhältnis interessiert und leben das. Die Erfahrung hat gezeigt, dass uns nicht Schlagzeilen, sondern fundierte Sportpolitik weiterbringen. Das gute Verhältnis ermöglicht dem LSVBW, gehört zu werden. Das ist wichtig und hilft nachweislich den Verbänden und Vereinen.

 

Die Corona-Landesverordnung vom 2. November verfügt einen Shutdown für den Amateursport und Zuschauerverbote für den Profisport. Welche Härten konnten durch Ihre Gespräche abgemildert oder verhindert werden?

 

Sicherlich sind die Regelungen sehr, sehr hart. Allerdings können immerhin Sportlerinnen und Sportler bis einschließlich der Landeskaderebene und bis zu den dritten Ligen weiterhin trainieren. Auch eine Verlängerung der Antragsfrist für die Soforthilfe Sport Baden-Württemberg für Vereine und Verbände bis Mitte nächsten Jahres steht im Raum. Da bin ich sehr optimistisch, das wird kommen. Insgesamt können wir froh sein, dass es zumindest in Teilen möglich ist, weiterhin Sport zu treiben, wenn auch schwer zu verstehen ist, dass zum Beispiel kein Kinder- und Jugendsport stattfinden kann. Aus meiner Sicht kann Sport Lösung des Problems sein, Sport und Bewegung leisten einen wichtigen Beitrag zu physischer und psychosozialer Gesundheit der Menschen. Sport stärkt die Abwehrkräfte und das Immunsystem. Ein starkes und stabiles Immunsystem ist unsere beste Prophylaxe gegen Krankheiten und Ansteckungen. Das gilt für Neugeborene bis hin zu Hochbetagten. Wann wäre das wichtiger als in der gegenwärtigen Corona-Pandemiephase?

 

Viele Sportlerinnen und auch ehemalige Sportler an den Stammtischen beklagen, dass seit März 2020 für den Fußball viele Extrawürste gebraten wurden. Bei den TV-Übertragungen kann man beobachten, dass den Profis und auch etlichen Trainern und Funktionären die Abstands- und Hygieneregeln ziemlich wurscht sind. Was sagen Sie dazu?

 

Das Thema ist weitaus facettenreicher, als ich es hier darstellen kann. Hier geht es um Berufssport. Erst einmal muss man dazu sagen, dass im Profifußball ein sehr hoher Anteil der Einnahmen durch die Fernsehrechte erzielt wird. Das ist in den anderen Profiligen anders, deshalb gibt es für diesen Bereich auch Hilfen auf Bundesebene – wir alle sollten die Daumen drücken, dass diese für die betroffenen Sportligen und Sportarten ausreichen. Allein schon die Vorbilder sind für unseren Nachwuchs wichtig. Der Fußball profitiert von diesen Hilfen nicht, da wird das Geld anders erwirtschaftet. Allein schon deshalb ist das nicht vergleichbar, und ich finde, wir im Sport sollten solidarisch bleiben, zumal die Öffnungen im Frühjahr und dann für die anderen Profiligen, was Zuschauer betrifft, ohne Fußball sicher zum damaligen Zeitpunkt nicht möglich gewesen wären. Der gesamte Sport vom Nachwuchskicker bis zum Seniorensportler hat ein Stück weit davon profitiert. Ich hoffe, dass wir Anfang Dezember zum Trainingsbetrieb zurückkehren können, wie es im Oktober noch möglich war. Natürlich gilt es, sich an die Regeln zu halten, das ist elementar. Und ich bin überzeugt, unsere Vereine sind in der Lage, zahlreiche Sportangebote zu unterbreiten, die auch bei hohen Inzidenzwerten verantwortbar sind, um die genannten positiven Effekte zu erzielen und damit die Pandemiebekämpfung zu unterstützen. Abschließend dazu: Sicher dabei ist, der Fußball hat mitgeholfen, Sport wieder möglich zu machen.

 

Die Landesregierung hat Soforthilfen für Fachverbände und Vereine bereitgestellt, die durch die Pandemie in ihrer Existenz bedroht sind. Wie werden diese Hilfen in den drei Sportbünden des Landes in Anspruch genommen und wie schnell werden die Hilfen gewährt?        

 

Meines Wissens sind aktuell von den zur Verfügung gestellten rund 11,6 Millionen Euro ungefähr sieben Millionen abgerufen worden. Durch den neuerlichen Lockdown stehen wir im Austausch über eine Verlängerung der Soforthilfe. Diese Verlängerung über den 30. November hinaus halte ich für extrem wichtig. Die Gewährung der Hilfen funktioniert relativ schnell. Das Geld ist nach Antragseinreichung meistens schon in wenigen Tagen auf dem Konto des Antragstellers. Da machen die Sportbünde einen guten Job.

 

Claus-Peter Bach am 18. November 2020 in der Rhein-Neckar-Zeitung

 

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Ulrich Derad ist seit 2012 Hauptgeschäftsführer des Landessportverbandes Baden-Württemberg.

Dienstag, 17. November 2020

Bayern wichtiger als Deutschland?

 Über Stammtisch-Gespräche von Sportlern in diesen Zeiten

Kürzlich hat uns eine Nachricht des Instituts für Management- und Wirtschaftsforschung in Hamburg erstaunt. Darin wurde, liebe Leserin, lieber Leser und liebes Leserlein, behauptet, dass der „FC Bayern München auch an den Stammtischen auf Platz eins“ liege, was die Forscher dadurch herausgefunden haben wollen, dass sie 430 Millionen Online-Quellen belauscht hatten. Damit haben die Wissenschaftler auf unerhört rüde Weise dem DFB-Manager Oliver Bierhoff widersprochen, der vor dem Mittwochs-Kick gegen Tschechien kühn behauptet hatte, die deutsche Nationalelf sei „die wichtigste Fußballmannschaft Deutschlands“.

 

Da RNZ-Journalisten grundsätzlich jede Meldung auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen und mein Papagei seit dem Eintritt in den Ruhestand noch viel mehr herumflattern kann, haben wir bis zum Beginn des November-Lockdowns unseren beliebtesten Stammtisch regelmäßig besucht. Interessant war: Über die Bayern wurde so gut wie nie debattiert. Sie sind gut, das haben auch Nichtfußballer begriffen, was sollte man darüber streiten? Themen waren Schalke und der Metzger Tönnies, Aufsteiger VfB Stuttgart und die neuen Nöte des Karlsruher SC und des SV Sandhausen. Nach den Nations League-Spielen der DFB-Elf knurrte Gérard, der Altinternationale mit dem knirschenden Hüftgelenk, nach vier Vierteln und zwei 600-ern Ibuprofen: „Jogi, Jogi, genug ist genug!“ Nach dem 1:0 gegen Tschechien schlüpfte mein Papagei in Gérards Rolle und fragte: „Welchen Sinn hat ein Vorbereitungsspiel, wenn alle Stammspieler fehlen?“

 

Vor dem Lockdown waren auch dies Stammtisch-Themen: Erstens das nette Wesen der neuen Klubhauswirtin und zweitens Bibiana Steinhaus. Walter, der sich „Walt“ nennt, seit er mit seiner fünften Ehefrau im Camper durch den nordamerikanischen Mittelwesten gebrettert war, brachte die Rede wieder einmal auf die 41-jährige Polizeihauptkommissarin, die ihre Schiedsrichter-Laufbahn nach je einem WM- und Olympiafinale der Frauen und 36 Einsätzen in der Bundesliga und 2. Liga der Männer aus freien Stücken beendet hat – als freie Frau und mit Applaus, nachdem sie erkannt hatte, dass Fußball nicht alles ist. „Walt“ erinnerte sich daran, dass Stammtischfreunde das Ende der Welt prophezeit hatten, als Bibiana Steinhaus vor ihrem ersten Einsatz bei den tätowierten Männern gestanden hatte. „Jetzt kommt auch noch diese Seuche über uns“, hatte „Walt“ damals recht unreflektiert beigepflichtet.

 

Dass „Walt“ die blonde Frau mit einer Seuche verglichen hatte, ist ihm heute peinlich, aber dadurch zu erklären, dass er von vier Ehefrauen schuldhaft geschieden worden ist. So etwas ist teuer, es trübt die Laune. Nun wissen wir, dass die Schiedsrichterin weit weniger gefährlich gewirkt hat als die aktuelle Pandemie, denn an den 36 Bundesligaspielen der Frau Steinhaus ist kein Mensch gestorben. Weil auch die Stammtischbrüder weiterleben wollen, bleiben sie gegenwärtig brav zuhause und gucken Fußball mit Mund- und Nasenbedeckung, die sie nur kurz lüpfen, um die trockene Wohnzimmerluft zu befeuchten.

 

Eine rasche Telefonumfrage unter den Stammtischfreunden hat ergeben, dass sie sich in einem Schockzustand befinden, seit bekannt wurde, dass immer mehr der stressgeplagten Hoffenheimer Fußballer aus heiterem Himmel am Coronavirus erkranken und dass Heintjes „Mama“, die berühmteste Holländerin der späten 1960-er Jahre, mit Covid-19 gestorben ist.

 

Vielleicht geben diese ebenso bedrohlichen wie traurigen Nachrichten den „Querdenkern“ zu denken – falls diese dazu überhaupt in der Lage sein sollten...

 

Claus-Peter Bach am 14. November 2020 in der Rhein-Neckar-Zeitung