Sonntag, 4. September 2022

„Die Olympischen Spiele hätten sofort abgebrochen werden müssen“

Über den Überfall des „Schwarzen September“ 1972 auf Israels Olympiamannschaft

 

Für Dietrich Keller (78) war es „ein Unding“. „Man hätte die Spiele sofort abbrechen müssen“, sagt Günter Glasauer (74). „Ich bin gleich heimgefahren“, erinnert sich Günter Haritz (73). Bei diesen drei Heidelberger Athleten stieß es auf völliges Unverständnis, dass Avery Brundage, der US-amerikanische Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), am Tag nach dem Überfall der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September“ auf die israelische Mannschaft am 5. September 1972 bei der Trauerfeier im Münchener Olympiastadion erklärte: „The games must go on!“

 

Alle elf israelischen Geiseln und während der missglückten abendlichen Befreiungsaktion auf dem Flughafen in Fürstenfeldbruck auch ein bayerischer Polizist sind von den Terroristen getötet worden, ehe diese von den Sicherheitskräften erschossen wurden.

 

Günter Haritz, der Weltmeister von 1970 und 1973 und Europameister von 1974 und 1976, betreibt seit Jahrzehnten ein Fahrradgeschäft in Leimen und hat die Trauerfeier vor dem heimischen Fernseher erlebt. Am Abend des 4. September hatte der für Badenia Sandhausen fahrende Haritz mit Jürgen Colombo (Stuttgart), Udo Hempel (Büttgen) und Günther Schumacher (Berlin) den Endlauf in der 4000-m-Mannschaftsverfolgung gegen die DDR und die Goldmedaille gewonnen. Der Bahn-Vierer, für den im Viertelfinale gegen Polen der Berliner Peter Vonhof anstelle Hempels fahren durfte, wurde von Bundestrainer Gustav Kilian betreut, den die Zeitgenossen in Anlehnung an Hans Falladas berühmten Roman den „Eisernen Gustav“ nannten. „Wir haben sie beinahe überrundet“, antwortet Günter Haritz auf die Frage nach der Überlegenheit des BRD-Vierers im Olympia-Endlauf „in diesem herrlichen Radstadion, das leider abgerissen wurde.“ Die hölzerne Bahn und die Zuschauerränge waren überdacht, doch in der Mitte war das Stadion offen, so dass die Deutschen aus West und Ost bei der Siegerehrung und der Überreichung der Medaillen durch Avery Brundage die Sterne am Abendhimmel funkeln sahen.

 

„Wir sind dann noch schnell eine Ehrenrunde gelaufen, haben uns geduscht und umgezogen und sind gegen 0.30 Uhr in Schwabing eingetroffen, um unseren Sieg zu begießen. Leider waren wir zu spät, die Kneipen schon geschlossen. Als wir einem Wirt begreiflich machen konnten, dass wir gerade Olympiasieger geworden waren, hatte er ein Einsehen und gab uns was zu trinken“, erinnert sich Günter Haritz an die Hektik nach dem Sieg.

 


Die Goldjungen haben die Nacht bei ihren Frauen und Freundinnen in Hotels verbracht, und als sie am nächsten Morgen zurück in ihre Unterkunft im Olympischen Dorf wollten, war dieses hermetisch abgesperrt. „Wir haben von den Polizisten erfahren, was geschehen war, und durften erst hinein, als wir unsere Goldmedaillen vorzeigten. Wir konnten die bewaffneten Palästinenser beobachten. Ich habe Angst bekommen und bin mit meiner Frau sofort nach Hause gefahren“, fanden die so erfolgreichen Spiele für Günter Haritz ein jähes Ende.

 

Später machte sich Haritz als Sechs-Tage-König einen Namen und gewann mit Felice Gimondi, Bernard Hinault, René Pijnen, Patrick Sercu, Bernard Thévenet und Dietrich Thurau elf von 68 Six Days. Bei der Spanien-Rundfahrt trug er vier Tage lang das Rote Trikot des Führenden.

 

Weniger triumphal verlief Olympia 1972 für „Didi“ Keller. Der 2,10 Meter große Center war soeben vom deutschen Meister Leverkusen zum USC Heidelberg gewechselt, mit dem er den Titel 1973 und 1977 gewann. Der Mainzer Bundestrainer Theodor Schober hatte das baumlange Bewegungswunder in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt entdeckt, gefördert und in den Olympiakader berufen. „Torry“ Schober, ein ehemaliger USC-Meisterspieler, hatte Platz zehn als Ziel ausgegeben, am Ende sprang Rang zwölf für die Deutschen heraus, die erstmals seit Berlin 1936 an einem olympischen Basketball-Turnier teilnahmen und den 52:51-Finalsieg der Sowjetunion gegen die USA miterlebten.

 

„Natürlich war Olympia für uns alle das größte Ereignis unserer Laufbahn, allerdings habe ich sportlich schönere erlebt“, erinnert sich „Didi“ Keller, später 40 Jahre lang Lehrer an der Julius-Springer-Schule in Heidelberg. Er bestritt 98 Länderspiele, konnte in München aber nur vier Mal eingesetzt werden. „Im dritten Spiel, beim 93:74-Sieg gegen die Philippinen, habe ich das Knie eines Gegners am Oberschenkel gespürt und einen Muskelfaserriss erlitten. Erst im letzten Spiel, beim 69:70 gegen Australien, konnte ich in der letzten Minute nochmals mitspielen“, bedauert Keller, der es „echt schlimm“ fand, acht Tage lang tatenlos zusehen zu müssen.

 

Die „Katastrophe“, wie Keller den Terrorakt nennt, der rund 60 Meter von den Zimmern der deutschen Korbjäger entfernt geschah, hat „uns völlig demoralisiert. Danach ging nichts mehr. Und das IOC konnten wir überhaupt nicht verstehen“, sagt „Didi“ Keller.

 

Dessen Vereinskamerad Dr. Günter Glasauer nahm als Speerwerfer an den Olympischen Spielen in München teil, lebt mit seiner Ehefrau Dorothea Thimm, einer ehemaligen Studentin aus der Heidelberger Ingrimstraße und Apothekerin in Speyer, in Tulbingerkogel im Wienerwald und hat kürzlich „völlig begeistert“ die European Championships in München verfolgt. Der Schützling von Bundestrainer Hermann Rieder und USC-Trainer Atef Ismail war aus Wetzlar als Student nach Heidelberg gekommen, 1972 Dritter der deutschen Meisterschaft und spielte ab 1974 nach verletzungsbedingter Beendigung seiner Werfer-Karriere für den USC in der Basketball-Bundesliga – neben „Didi“ Keller.

 

Nachdem der Geografie- und Sportstudent bei einem Länderkampf gegen Ungarn 1972 seine persönliche Bestweite von 80,88 Metern erzielt hatte, warf er bei einem Qualifikationswettkampf 79,94 Meter – sechs Zentimeter zu wenig.

 

„Daraufhin setzte sich Atef, der mich in jedem Training betreut und beraten hatte, unwahrscheinlich bei den Offiziellen des Verbandes ein, was zu meiner Nominierung führte“, ist Glasauer seinem heute gesund und munter mit 89 Jahren in Kairo lebenden Trainer ewig dankbar. In München freilich schmerzte der Wurfarm wieder sehr, und 73,12 Meter reichten nur zu Platz neun im Vorkampf, weshalb Günter Glasauer das Speerwurf-Finale und den „Goldenen Sonntag“ der deutschen Leichtathletik auf der Tribüne erlebten musste.

 

Nach Bernd Kannenberg (Fürth, † 2021) im 50-km-Gehen und der Hannoveranerin Hildegard Falck über 800 Meter gewann Glasauers Disziplinkollege Klaus Wolfermann aus Altdorf bei Nürnberg mit Trainer Hermann Rieder vom USC Heidelberg mit 90,48 Metern die Goldmedaille – drei deutsche Olympiasiege an einem Nachmittag blieben im Gedächtnis. Der lettische Weltrekordler Janis Lusis, mit dem Günter Glasauer „drei Mal vom Training ins Dorf zurücklief und sich prima auf Englisch unterhielt“, war knapp geschlagen.

 

„Man hätte die Spiele sofort abbrechen müssen. Nach einem so schrecklichen Ereignis würde das heute jedenfalls passieren“, ist sich Günter Glasauer, der gerade den Jagdschein erworben, aber noch kein Tier erlegt hat, sicher.

 

Angesichts der Zustände im IOC 2022 möchte man ernste Zweifel anmelden.

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