Dienstag, 2. Juni 2020

Rudern als Kraftübung und Kunstwerk

Über den deutschen Hochschulmeister Berkay Günes, der im Renneiner „Fritz Graf“ rudert

Berkay Günes fällt es schwer, „ohne konkrete Ziele zu trainieren“. Der 22-jährige Topathlet des Heidelberger Ruderklub ist traurig darüber, dass er dieses Wochenende nicht am Regattaplatz an der Neuenheimer „Wasserschachtel“ verbringen darf, denn vor Jahresfrist hat der in Zürich geborene Ruderer auf dem Neckar vier Siege errungen; es war der Auftakt einer Saison, die der Physikstudent Ende Juni in Hamburg mit der deutschen Vizemeisterschaft im Doppelzweier und der deutschen Hochschulmeisterschaft im Einer erfolgreich abgerundet hat.

Berkay Günes ist Leichtgewichtsruderer, er hat bei einer Größe von 1,77 Metern ein Gewichtslimit von 72,5 Kilogramm. „Das bereitet mir keine Schwierigkeiten. Ich musste noch nie abkochen“, sagt er. Im leichten Doppelzweier harmoniert er seit Ende 2018 mit seinem Bootskameraden Sam Vasquez Fischer, einem 19-jährigen Heidelberger. „Gerade die Heimregatta macht besonders viel Spaß. Man trifft Freunde und kann sich vor den Heidelberger Ruderfans beweisen“, bedauert Berkay Günes die Coronavirus-bedingte Absage der Regatta, nennt die behördlichen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung aber „angemessen“.

Berkay, was auf Deutsch „starker Mond“ bedeutet, rudert seit 2012. Seine Großeltern kamen als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland. Die Eltern haben sich hierzulande kennengelernt. Mutter Ayse war Studentin in Tübingen und ist Lehrerin für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache. Vater Cagatay studierte in Köln und wirkt als Professor für Molekularbiologie an der Universität Ulm. Da Berkay Günes gegenwärtig in Heidelberg nicht rudern darf, ist er aus seiner Studentenbude in Handschuhsheim geflohen. Er hält er sich bei den Eltern und dem ebenfalls rudernden 19-jährigen Bruder Ufuk in der Ruder-Metropole an der Donau auf und mit Fahrten „auf dem Rennrad“ und Laufen („Davon bin ich kein großer Fan“) fit. Auf dem Balkon hat er einen Ruderergometer für harte Trainingseinheiten stehen, der während der Coronavirus-Pandemie als Ersatz für das Wassertraining herhalten muss.


Mit Ergometerrudern beschäftigen sich die HRK-Asse eigentlich nur während der Wintermonate, wenn ein eisiger Wind über den Neckar pfeift. Eine alte Ruderer-Weisheit besagt, dass man im Sommer bei den Regatten ernten könne, was man im Wintertraining gesät hat. Berkay Günes ist ein besonders fleißiger Sämann. Die HRK-Statistik für 2019 weist aus, dass er 3650 Kilometer gerudert ist; das sind – grob gerechnet zehn Kilometer pro Tag. Damit ist er Vereinsmeister und liegt rund 700 Kilometer vor Gisela Makowski auf Rang zwei, Altmeister Volker Hinz auf Rang drei und Sam Vasquez Fischer auf Platz vier.

Als 14-Jähriger fand Berkay Günes zum Wassersport. Sein Schulfreund Jan Hauf nahm ihn und „vier, fünf andere Leute“ mit zum Rudertraining: „Wir gingen oft direkt nach der Schule zum Bootshaus“. Anfangs ruderte er in Großbooten und erhielt einen enormen Motivationsschub, als der Deutschland-Achter in London Olympia-Gold gewann. Während einer zweijährigen Lebensphase in Jena wechselte er in Einer und Zweier und probierte sich „eher selten“ im Vierer aus. 2017 kam Berkay Günes zum Studieren nach Heidelberg, ist nun im virtuellen achten Semester und will sich mit der Ausbildung noch etwas Zeit lassen, schließlich zählt zu einem gründlichen Studium auch der Spaß mit Freunden und mit dem Sport. Radfahren, Filme schauen und viele Bücher lesen sind Berkays Freizeitbeschäftigungen, „doch viel Freizeit bleibt mir nicht“. Rudern auf seinem Niveau ist beinahe ein Vollzeit-Job, tausend Minuten pro Woche, aufgeteilt in zehn bis zwölf Trainingseinheiten, sind das normale Pensum.

Als deutscher Hochschulmeister hatte sich Berkay Günes, trotz seines Vornamens kein Nachtmensch, für die Studenten-Europameisterschaft 2020 in Belgrad qualifiziert. Diese Titelkämpfe wurden auf 2021 verschoben, die Nominierungen sollen bestehen bleiben. So hat er wenigstens ein mittelfristiges Trainingsziel – und einen großen Traum: Der Heidelberger möchte mit weiteren guten Leistungen die Bundestrainer des Deutschen Ruder-Verbandes (DRV) auf sich aufmerksam machen und alles dafür tun, um 2021 „irgendwo in Asien“ bei der Weltmeisterschaft dabei zu sein.

Seine Regatten fährt Berkay Günes im Renneiner „Fritz Graf“. Das mag ein gutes Omen sein. Der „alte Fritz“, später Frauenarzt in Wiesbaden, war ein hünenhafter Mann, der 1913 die schweren Einerrennen in Berlin, Mainz, Frankfurt, Karlsruhe, Mannheim und München gewann und am 23. und 24. August 1913 in Gent als erster deutscher Ruderer Europameister im Einer wurde.
„Dieser Mann kam nach dem Umstieg ins Skiff förmlich zur Explosion. Dabei war er in dieser Bootsgattung reiner Autodidakt“, schrieb Professor Hermann von Neuenstein in seinen Erinnerungen, und in der Chronik der Stadt Heidelberg von 1913 heißt es: „Grafs Sieg bei der Weltausstellung in Gent wurde in ganz Deutschland mit Jubel aufgenommen, auch vom Deutschen Kaiser und dem Großherzog telegraphisch begrüßt. Wie eine große allgemeine Sache, wie in England oder den antiken Stadtstaaten, wurde also der Sieg in körperlicher Kraft und Kunst behandelt und gefeiert.“

Rudern als Kraftübung und Kunstwerk – wer Berkay Günes auf dem Neckar rudern sieht, kann erahnen, was man vor 107 Jahren mit diesen Worten gemeint hatte.

Claus-Peter Bach am 23. Mai 2020 in der Rhein-Neckar-Zeitung

Bildtext:

Berkay Günes im Renneiner „Fritz Graf“. Foto: Meinruderbild.de

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