Dienstag, 17. März 2020

Tränen der Freude, der Wut und des Abschieds

Eigentlich, liebe Leserin, lieber Leser und liebes Leserlein, geschah an den letzten Tagen nicht viel Neues. Weihnachten war besinnlich, und um keine Langeweile aufkommen zu lassen, liefen im Fernsehen Biathlon, Nordische Kombination, wieder Biathlon, Langlauf und noch einmal Biathlon, außerdem „Sissi“, die „Feuerzangenbowle“, „Don Camillo“ in allen Lebenslagen und „Pater Brown“ – die älteren Fassungen mit Heinz Rühmann – immerhin! Irgendwann
stellte mein Papagei die Frage, ob die Programmdirektoren tatsächlich alle Kerzen auf dem Christbaum haben, aber für diese Frechheit gab’s einen Tadel, denn so etwas sagt man nicht – nicht an Weihnachten.


„Quax, der Bruchpilot“ haben wir in keiner Fernsehzeitschrift gefunden. „Macht nichts,“ fand mein Papagei, der bei seinem jüngsten Rundflug über Hollywood ausgespäht hat, dass der blutrünstige Quentin Tarantino eine Neuverfilmung
vorbereitet, natürlich mit Christoph Waltz in der Rolle des Otto Groschenbügel. „Nein!“, kreischt mein Papagei, „das macht der Vettel!“ Er meint jenen in Heppenheim in die Fahrschule gegangenen Wahl-Schweizer, der – als ehemaliger vierfacher Weltmeister! – die Formel-1-Saison 2019 vornehmlich dazu genutzt hat, seinen Ferrari und andere Autos zu zerstören, die Konkurrenten an Leib und Leben zu gefährden, seine Fans zu verwirren und seinen Chefs auf die Nerven zu gehen.

Vettel beendete den Zirkus mit 240 Punkten als Tabellenfünfter, ist aber, gleichauf mit Daniel Ricciardo auf Renault, Strafpunkte-Spitzenreiter. Nachdem Vettels Rowdy-Saison von den Beamten der Flensburger Verkehrssünder-
Datei nicht zur Kenntnis genommen wurde (Beamte schlafen auch oft, wenn die Formel 1 startet), hat der Motorsport-Weltverband selbst eine Sünderliste eingeführt: Vettel – seven points, steht da nun. Und mein Papagei sieht sich bestätigt: „Mercedes, made in Germany, ist ohnehin das beste Auto.“

Außer der Formel 1 hat uns der Abstieg des Uli Hoeneß von der Kommandobrücke des FC Bayern am meisten berührt. Wie der Patron am Abend des 15. November die Olympiahalle rockte, wie er im Hin und Her zwischen Eigenlob und
Tränen, zwischen Applaus und Hoch-Rufen, zwischen Erinnerungen und Treueschwüren seinen Abschied zelebrierte, ließ meinen Papagei den Kopf einziehen und flüstern: „Jetzt ist er wieder da, der Kini!“ Wir haben jeden Satz der langen Rede genossen, auch die Dankesworte an Hinz und Kunz unter dem weißblauen Sternenhimmel, und wenn der Uli eine Pause brauchte, um noch einmal herzzerreißend zu schluchzen, haben wir gelauscht, ob er es vielleicht doch noch sagen
wird: Ein klitzekleines „Vergelt’s Gott!“ für den Vorsitzenden Richter des Landgerichts München II, der ihm am 13. März 2014 unter Aufbietung aller nur in Bayern verfügbaren Gnade für eine Steuerhinterziehung in Höhe von 28,5
Millionen Euro drei Jahre und sechs Monate Gefängnis aufgebrummt hatte, wovon er als Ehrenmann, Würstelfabrikant und Wohltäter nur die Hälfte und das meiste davon im offenen Vollzug absitzen musste. Ob Sie, lieber Leser, in den
brutal harten Tagen in Landsberg auch mit der Diätkost aus Käfers Küche zufrieden gewesen wären?

In den Verfahren gegen Hoeneß und die mutmaßlichen Sünder beim „Sommermärchen 2006“ konnte übrigens kein Videobeweis zur Rate gezogen werden, denn die deutschen Fußball-Granden von damals, der Seppl aus der Schweiz
und der geheimnisvolle Edle aus dem Morgenland hatten sich bei ihren Geldgeschäften nicht filmen lassen. Mein Papagei glaubt nicht mehr daran, dass die Affäre um die 6,7 Millionen Fränkli, die vom Konto des verstorbenen Adidas-
Chefs Robert Louis-Dreyfus im Schweinsgalopp zum DFB nach Frankfurt, von dort zur Fifa, dann zu Kaiser Franz nach Österreich und schließlich zu Scheich bin Hammam nach Katar gewandert sein sollen (für eine WM-Gala,
die nie stattfand), noch einmal aufgeklärt werden wird. Die Behörden in der Schweiz lassen sich Zeit, und der Herr Generalbundesanwalt in Karlsruhe hat sich für das Ermittlungsverfahren in Deutschland noch nie interessiert. „Verjährung
schützt vor Strafe“, weiß mein Papagei, der im Gemeinschaftskunde-Unterricht seiner Baumschule gut aufgepasst hatte. Er sagt auch: „Die Kleinen henkt man, die Großen lässt man laufen“, aber dafür kriegt er wieder einen Klaps auf den
Schnabel, denn in einem Rechtsstaat darf man so etwas nicht sagen.

Der Videobeweis gilt hier und da, hier und da aber auch nicht. Für Mario Gomez hat er gegolten, denn der ehemalige Nationalstürmer hat im Spiel beim SV Sandhausen drei Tore geschossen, von denen keines der Überprüfung im Kölner
Keller Stand gehalten hat. „Ob Gomez sich über diese Art der Gerechtigkeit gefreut hat?“, fragte sich mein Papagei, freute sich aber über den 2:1-Sieg der Sandhäuser. Er trägt zwar ein buntes Federkleid und ist hereingeschneit, fühlt sich aber als Kurpfälzer.

Wir haben uns übrigens unbändig darüber gefreut, dass mit Peter Handke erstmals ein Sportjournalist mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet worden ist. Sofort hat mein Papagei dessen berühmtestes Buch „Die Angst des Tormanns
beim Elfmeter“ von 1970 aus dem Bücherschrank geholt. Seither sitzt er auf dem Sofa und versucht zu verstehen, worum es in diesem Bändchen eigentlich geht.


Was wird uns, lieber Leser, liebe Leserin und liebes Leserlein, das Sportjahr 2020 bringen? Noch mehr Biathlon, noch mehr Videobeweise, Olympische Spiele mit unseren Weltmeistern Malaika Mihambo und Niklas Kaul, mit rund 30 Athletinnen und Athleten aus der Kurpfalz und mit Thomas Bach und vielen gedopten Russen, die sich nicht haben erwischen lassen und unter neutraler Flagge starten. Außerdem gibt es Fußball, Fußball und Fußball – warum auch nicht?
Unser Lieblingssport ist ja jetzt gerecht, es lebe der Videobeweis! Einen guten Rutsch wünscht mein Papagei.

Claus-Peter Bach am 30. Dezember 2019 in der Rhein-Neckar-Zeitung

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