Mittwoch, 29. Juli 2020

Mein Papagei stürzte fast vom Himmel

Über den Stellenwert Olympischer Spiele ein Jahr vor Tokio 2021


Am Freitagabend haben mein Papagei und ich uns auf dem Sofa nett eingerichtet, ein paar Kissen im Rücken, Erdnussflips, Stachelbeeren, Cola Zero und frischen Filterkaffee – was man so braucht für eine lange Fernsehnacht. Vier Jahre zuvor, bei Olympia in Rio, war das schön. Schon in der ersten Nacht erlebten wir Unterwasserrudern auf einer windgepeitschten und von toten Fischen verseuchten Lagune, bewunderten den Straßenrennen-Sieger Greg van Avermaet beim Biss in die Goldmedaille und empörten uns, als ein Reporter verkündete, der erste Aufschlag von Andrea Petkovic und Jelina Switolina sei mit unter 50 Prozent schlecht gewesen, „was bei Frauen oft so“ sei.

 

Diesmal verzehrten wir Erdnussflips, Stachelbeeren und Kaffee zu „Ein Fall für zwei“, „SOKO Leipzig“, „Tatort“ und „Mankells Wallander“, und irgendwann schlummerten wir hinweg, denn auch Herr Dr. Thomas Bach, bekanntester Ratgeber in allen olympischen Lebenslagen, tauchte an diesem Abend nicht auf.

 

Kürzlich ist mein Papagei bei einem Rundflug über „Sportdeutschland“ beinahe vom Himmel gestürzt. Er hatte beobachtet, wie fleißig unsere Athletinnen und Athleten sich auf die Olympischen Spiele 2020 im Jahr 2021 in Tokio vorbereiten, wie sie unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln aus 1,50 Metern Entfernung Judo- und Ringergriffe ansetzen, mit auf fast zwei Meter verlängerten Armen boxen und in einem auf 40 Meter Länge ausgebauten Achter den Neckar hinauf- und hinunterrudern. Da gelangte die Radio-Nachricht an sein Ohr, dass Thomas Bach entschlossen sei, 2021 nochmals für das Amt des IOC-Präsidenten zu kandidieren. „Das darf doch nicht wahr sein!“, entfuhr es meinem Papagei, dem sofort klar war, wie demotivierend diese Nachricht auf die Sportlerinnen und Sportler wirken wird.

 

Keine Ethik, keine Moral

 

Gut, dass Tokio 2020 aufgrund der Coronavirus-Pandemie verschoben werden musste und kein Mensch weiß, ob das Sportfest im Juli 2021 stattfinden kann, ist dem IOC-Präsidenten nicht anzulasten. Dieses kleine fiese Virus, liebe Leserin, lieber Leser und liebes Leserlein, hat Bach nicht erfunden und auch nicht verbreitet. Andere Krankheiten, die den Weltsport plagen, aber schon. Alfons Hörmann, der ehrenwerte Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, hat in dieser Zeitung zwar mal behauptet, „Thomas Bach ist nicht Teil des Problems, sondern dessen Lösung“, doch mein Papagei hält dagegen und sagt: „Dieser Satz enthält zwei Irrtümer“.

 

Lesen bildet, Radiohören auch. Am 18. Juli hat Bianka Schreiber-Rietig im Deutschlandfunk kommentierend zusammengefasst, warum es keine gute Idee sei, dass das IOC mit Bach an der Spitze weiterwursteln wolle. Wir zitieren ein paar Sätze der Kollegin, weil sie so schön und so treffend sind:

 

„Auch in einer zweiten Amtszeit wird sich nicht viel ändern. Das IOC bleibt in vielem ignorant und aus der Zeit gefallen.“ – Dann wird Frau Schreiber-Rietig konkret: „Der 100 Delegierte starke IOC-Hofstaat huldigt König Thomas. Kritik? Keine. Dabei kam sein zauderndes Pandemie-Management außerhalb seines Königreiches nicht gut an – weder bei den Athletinnen und Athleten, noch dem Gros der Sportfamilie, geschweige denn bei vielen Menschen weltweit.“ Mein Papagei erinnert sich: „Das IOC stimmte einer Verschiebung der Spiele erst zu, als tausende Menschen gestorben waren.“

 

„Bachs IOC-Agenda 2020 sollte die Spiele reformieren. Ergebnisse: Bisher mau“, stellt Frau Schreiber-Rietig fest, und mein Papagei erinnert an Bachs Hinhalte-Politik im Doping-Skandal um Russland, an seine zerstörende Kritik an der unterfinanzierten WADA, an seine Ferne zu den Athleten und seine Nähe zu Despoten in aller Welt. Natürlich: Olympia hat einen Wert. Mit Bach an der Spitze hat es aber keine Ethik und keine Moral.

 

Claus-Peter Bach am 27. Juli 2020 in der Rhein-Neckar-Zeitung

Sabine Kusterer hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben

Über eine deutsche Gewichtheberin, die 2021 bei Olympia in Tokio starten möchte


Sabine Kusterer aus Karlsruhe lebt in Leimen und ist Gewichtheberin in der Bundesliga-Staffel des KSV Durlach. Die 29-Jährige ist Berufssoldatin und Studentin der Volkswirtschaftslehre. Sie dient als Oberfeldwebel in der Sportfördergruppe der Bundeswehr in Bruchsal, und als wir uns im Grün vor dem Olympiastützpunkt Rhein-Neckar treffen, hat sie sich schon ein paar Stunden auf eine Klausur an der Uni Heidelberg vorbereitet.

 

Die vielfache deutsche Meisterin der Gewichtsklassen bis 58 und bis 63 Kilogramm hat eine große internationale Erfahrung: 2008 war sie Jugend-Europameisterin, bei den Frauen-Europameisterschaften 2011 und 2013 belegte sie siebte Plätze, und bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro schaffte sie ihre persönlichen Bestleistungen mit 90 Kilogramm im Reißen und 110 Kilogramm im beidarmigen Stoßen; damit gewann sie in der Klasse bis 58 Kilogramm die B-Gruppe und belegte im Gesamtklassement den zehnten Rang.

 

Die Olympiasiegerin Sukanya Srisurat ist inzwischen lebenslang gesperrt worden. Die Thailänderin, bereits 2013 des Dopings überführt und für zwei Jahre suspendiert, hatte in Rio 110 und 130 Kilogramm zur Hochstrecke gebracht und sich 2017 bei einem anderen Wettkampf erneut beim Betrug erwischen lassen. Das Olympia-Gold durfte sie behalten. „Das macht mich wütend“, sagt Sabine Kusterer, zumal die International Weightlifting Federation (IFW) lapidar erklärt hat: „So ist das System, und so sind die Regeln.“



Sabine Kusterer hat in ihrem langen Sportlerleben schon viel Betrug und viele Ungerechtigkeiten erlebt und sagt: „Es ist ganz schlecht, dass im internationalen Gewichtheben permanent gegen das Fairplay und die Werte des Sports verstoßen wird, denn Doping hat im Training und in den Wettbewerben nichts zu suchen. Leider wissen diese Betrüger nicht, was sie sich und anderen Athleten antun.“ Für viele Konkurrenten stehe der Erfolg über allem. Da gebe es zum Beispiel den viermaligen Weltmeister Ilya Ilyin aus Kasachstan, der bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking und 2012 in London wegen Dopings disqualifiziert wurde, aber auf Instagram immer noch Millionen Follower habe. Ein Betrüger als Volksheld? Im Gewichtheben ist das in manchen Ländern möglich.

 

Sabine Kusterer, die über den Tellerrand ihres Sports hinausblickt, seit September 2018 auch ehrenamtliche Vizepräsidentin des Badischen Sportbundes Nord ist und als Botschafterin eines regelgerechten und anständigen Sports in die Vereine hinein wirkt, lässt das nicht kalt: „Wer betrügt und erwischt wird, gehört geächtet. Denn er zerstört den Ruf unseres Sports und vernichtet die Trainingsarbeit seiner Konkurrenten und bringt deren Leben in Gefahr. Denn wer permanent betrogen wird, gerät in Gefahr, sein inneres Gerüst zu verlieren.“ Die deutschen Antidopingregeln müssten weltweit gelten: Wer betrügt, verliert seinen Kaderstatus, wird ausgeschlossen und muss die Zuwendungen der Stiftung Deutsche Sporthilfe und alle Prämien komplett zurückzahlen.“

Diese Bedingungen müssen Athletinnen und Athleten unterschreiben, wenn sie in einen Bundeskader aufgenommen werden. Sabine Kusterer gehört gegenwärtig dem „Topteam Future“ der Sporthilfe an und wird mit monatlich 300 Euro als Zulage zu ihrem Bundeswehr-Sold unterstützt: „Davon kann man leben“, sagt sie und freut sich auf das in einer halben Stunde beginnende Krafttraining im OSP.

 

„Topteam Future“ heißt, dass man von Sabine Kusterer – wenn sie gesund bleibt und weiterhin konzentriert trainieren kann – noch einiges erwartet. Trainingsziel ist die erneute Qualifikation für die Olympischen Spiele, bei denen sie 2021 in der Gewichtsklasse bis 63 Kilogramm antreten möchte. Neue Gegnerinnen, neue Herausforderungen – es ist nicht möglich, ein konkretes Leistungsziel zu formulieren. Die hundert Kilogramm im Reißen möchte Sabine Kusterer aber schon irgendwann noch schaffen.

 

Immerhin hat sie ganz leise Hoffnungen, dass der Sport in der IWF künftig ein wenig sauberer und fairer wird: „Ich glaube nicht, dass Gewichtheben jemals dopingfrei sein wird. Aber mit richtiger Schulung der jungen Athletinnen und Athleten in aller Welt und mit einem durchgreifenden Kontrollsystem könnte der Betrug stark minimiert werden. Es mag eine Utopie sein, aber die IWF muss endlich zeigen, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher.“

 

Hoffnung verleiht der schonungslose Report des kanadischen Jura-Professors Richard McLaren (75), der das Geschäftsgebaren der IWF in den letzten 25 Jahren untersucht und im Rahmen einer ARD-Dokumentation am 7. Juni dieses Jahres öffentlich gemacht hat: Unter dem Ungarn Tamas Aján (81) aus Ungarn, der nach 25 Jahren als Generalsekretär seit 2000 als IWF-Präsident amtierte, Council-Mitglied der Wada und IOC-Mitglied war, gab es alles: Wahlbetrug, Vertuschung von rund 40 prominenten Doping-Fällen gegen Geldleistung, Bedrohung, Erpressung und Abservierung von Andersdenkenden wie den deutschen Verbandspräsidenten Dr. Christian Baumgartner aus IWF-Gremien und persönliche Vorteilsnahme. McLaren hat ausgerechnet, dass unter Aján 9,27 Millionen Euro aus der Kasse des Weltverbandes verschwunden und nicht mehr aufzufinden sind. Für diese großartigen Leistungen hat Tamas Aján am 28. Februar 2010 den Olympischen Orden, die höchste Auszeichnung des IOC, erhalten. Da war IOC-Präsident Thomas Bach noch im Anflug auf den olympischen Thron, doch schon 2011 ließ er sich, von Aján umarmt, ohne jedes Schamgefühl ablichten.

 

Die Hoffnung Sabine Kusterers und ihrer Kolleginnen und Kollegen in aller Welt ruhen nun auf der US-Amerikanerin Ursula Papandrea, die nach Lektüre des McLaren-Reports als Interimspräsidentin der IWF versprochen hat, die „klar benannten Probleme“ anzugehen: „Wir wollen in eine neue Ära der Transparenz, Verantwortung und guten Unternehmensführung eintreten“, versprach Ursula Papandrea in der ARD. Sabine Kusterer wünscht ihr viel Kraft, Glück und Erfolg.

 

Claus-Peter Bach am 27. Juli 2020 in der Rhein-Neckar-Zeitung