Die Begeisterung der Reporter
Es ist ein bisschen rührend und auf jeden
Fall sympathisch, liebe Leserin, lieber Leser und liebes Leserlein, dass unser
zum EM-Qualifikationsspiel zwischen den Niederlanden und Deutschland entsandter
Kollege nach dem 3:2-Erfolg unserer „Löwlinge“ so entzückt war, dass er, obwohl
ganz aufgewühlt, brav zu Bett gegangen ist, um anderntags durch die Stadt zu
„flanieren“ und sich – sicher zur Verwunderung seiner Ehefrau – in Amsterdam zu
verlieben. Dienstreise ja, auch über mehrere Tage, aber das?
Die neue Liebe des Kollegen ist ein Beweis
dafür, dass manche Sportreporter nicht stupide ihre Arbeit tun und ihren
Artikel pünktlich kurz vor Andruck in die Redaktion senden, sondern dass sie
den Sport lieben, mit den Athleten fiebern und über günstige, unerwartet
erzielte Resultate glücklich sein können. In solchen Nächten beginnt eine Stadt
zu leuchten, obwohl es stockdunkel ist. Die großen Radioreporter haben ihre
Begeisterung auch offen gezeigt und ihre Freude hell heraus geschrien. Als
Helmut Rahn 1954 im Berner Wankdorf-Stadion das 3:2-Siegtor im WM-Endspiel
gegen Ungarn geschossen hatte, rief Herbert Zimmermann drei Mal hintereinander
„Tooooor!“ mit fünf „o“, um seiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen.
Zimmermann wäre inzwischen 101 Jahre alt, doch seinen Torjubel haben auch
Fußballfans im Ohr, die bei der Heldentat der Fritz und Ottmar Walter, Helmut
Rahn, Horst Eckel oder Toni Turek noch gar nicht geboren waren.
Edi Finger aus Klagenfurt ist auch so ein
unvergessener Jubler. Als Hans Krankl 1978 beim WM-Spiel zwischen Deutschland
und Österreich im argentinischen Córdoba das Siegtor zum 3:2 für die
Alpenländler erzielte, rief Finger sogar sechs Mal „Tor!“ mit je drei Mal „o“
und fügte dann das Versprechen an: „I wer narrisch!“ Auch mein Papagei, der
viel herumkommt, kann nicht sagen, in welchem Geisteszustand Edi Finger 1989
bei seinem Dahinscheiden gewesen ist. Wahrscheinlich ist, dass er bis zum
letzten Atemzug von Krankls Tor beseelt war – vielleicht hatte er sich sogar in
Córdoba verliebt?
Heutzutage, es ist eine lästige
Erscheinung unserer Zeit, reden Reporter im Fernsehen so viel wie
Radio-Journalisten. „Sie müssen für die Übertragungsrechte so viel bezahlen,
dass sie die hohen Summen mit besonders vielen Worten, Analysen und Anmerkungen
rechtfertigen wollen“, vermutet mein Papagei, der in der Johan Cruijff Arena
auf einem warmen Plätzchen unter den Flutlichtstrahlern gesessen und
schmunzelnd zugesehen hatte, wie die Reporter von RTL und France 2 und BBC und
ORF und vielen weiteren Fernsehanstalten aus aller Welt jeden einzelnen Pass
bewerteten, den Stammbaum eines jeden Spielers und dessen Schoßhundes vorlasen
und – ganz wichtig! – alle 15 Minuten summarisch berichteten, was sich in den
Köpfen der Trainer Ronald Koeman und Joachim Löw abspielte. Nach 45 Minuten
glühten unsere Ohren, und wir schlossen die Augen, weil wirklich jeder Quer-
und Rückpass der Holländer und jedes Dribbling der forschen Deutschen
detailliert reportiert wurden.
Nach 15 Minuten – Leroy Sané hatte soeben
etwas vollbracht, was im deutschen Fußball ein bisschen in Vergessenheit
geraten war, und das 1:0 erzielt – fiel nach einem tiefen Schnaufer des
Reporters erstmals das Wort „Wende“. Nach 34 Minuten und Serge Gnabrys 2:0
gruben die Männer am Mikrofon das verschollen geglaubte Wort „Weltklasse“ aus
ihrem Reisekoffer aus, um in der Halbzeitpause im Expertengespräch die ersten
Hoffnungen auf den EM-Titelgewinn im nahen Jahr 2020 zu wecken.
Ab der 48. Minute verstummte das
Freudengeheul abrupt, denn Matthijs de Ligt hatte das 1:2 geschossen. Und als
Memphis Depay nach 63 Minuten der Ausgleich gelungen war, wurden – mein Papagei
überspitzt jetzt ein bisschen – „ernste Zweifel daran laut, dass die Löwlinge
das Seuchenjahr 2018 jemals würden überwinden können“. Der Neuaufbau werde
lange dauern, vielleicht jahrelang. Ob er mit diesem Trainer möglich sei, wurde
von Minute zu Minute ungewisser, und die Holländer, die immer schon Weltklasse
waren, dies aber nicht zeigen wollten – weshalb sie bei den letzten großen
Turnieren gerne gefehlt hatten – wurden zu künftigen Europa- und Weltmeistern
erklärt.
Dann schoss Nico Schulz in der 90. Minute
das 3:2, ein bisschen wie Helmut Rahn 1954 oder Hans Krankl 1978 – und plötzlich
waren unsere Reporter wieder fröhlich und sich so sicher wie nie zuvor, dass
Fußball-Deutschland den besten Nachwuchs aller Zeiten hat. Man müsse ihn halt
nur spielen lassen...
Unser Kollege war etwas weniger emotional,
sondern hat seine Beobachtungen mit flinken Fingern in die Tasten gehackt. Erst
dann hat er sich gefreut, ein Soda getrunken, ist spazieren gegangen und hat
sich verliebt. In Amsterdam – die Ehefrau muss sich keine Sorgen machen.
Aus: RNZ vom 30. März 2019
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