Dienstag, 23. April 2019

Über Fußball-Übertragungen im Fernsehen


 Die Begeisterung der Reporter

Es ist ein bisschen rührend und auf jeden Fall sympathisch, liebe Leserin, lieber Leser und liebes Leserlein, dass unser zum EM-Qualifikationsspiel zwischen den Niederlanden und Deutschland entsandter Kollege nach dem 3:2-Erfolg unserer „Löwlinge“ so entzückt war, dass er, obwohl ganz aufgewühlt, brav zu Bett gegangen ist, um anderntags durch die Stadt zu „flanieren“ und sich – sicher zur Verwunderung seiner Ehefrau – in Amsterdam zu verlieben. Dienstreise ja, auch über mehrere Tage, aber das?

Die neue Liebe des Kollegen ist ein Beweis dafür, dass manche Sportreporter nicht stupide ihre Arbeit tun und ihren Artikel pünktlich kurz vor Andruck in die Redaktion senden, sondern dass sie den Sport lieben, mit den Athleten fiebern und über günstige, unerwartet erzielte Resultate glücklich sein können. In solchen Nächten beginnt eine Stadt zu leuchten, obwohl es stockdunkel ist. Die großen Radioreporter haben ihre Begeisterung auch offen gezeigt und ihre Freude hell heraus geschrien. Als Helmut Rahn 1954 im Berner Wankdorf-Stadion das 3:2-Siegtor im WM-Endspiel gegen Ungarn geschossen hatte, rief Herbert Zimmermann drei Mal hintereinander „Tooooor!“ mit fünf „o“, um seiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Zimmermann wäre inzwischen 101 Jahre alt, doch seinen Torjubel haben auch Fußballfans im Ohr, die bei der Heldentat der Fritz und Ottmar Walter, Helmut Rahn, Horst Eckel oder Toni Turek noch gar nicht geboren waren.

Edi Finger aus Klagenfurt ist auch so ein unvergessener Jubler. Als Hans Krankl 1978 beim WM-Spiel zwischen Deutschland und Österreich im argentinischen Córdoba das Siegtor zum 3:2 für die Alpenländler erzielte, rief Finger sogar sechs Mal „Tor!“ mit je drei Mal „o“ und fügte dann das Versprechen an: „I wer narrisch!“ Auch mein Papagei, der viel herumkommt, kann nicht sagen, in welchem Geisteszustand Edi Finger 1989 bei seinem Dahinscheiden gewesen ist. Wahrscheinlich ist, dass er bis zum letzten Atemzug von Krankls Tor beseelt war – vielleicht hatte er sich sogar in Córdoba verliebt?

Heutzutage, es ist eine lästige Erscheinung unserer Zeit, reden Reporter im Fernsehen so viel wie Radio-Journalisten. „Sie müssen für die Übertragungsrechte so viel bezahlen, dass sie die hohen Summen mit besonders vielen Worten, Analysen und Anmerkungen rechtfertigen wollen“, vermutet mein Papagei, der in der Johan Cruijff Arena auf einem warmen Plätzchen unter den Flutlichtstrahlern gesessen und schmunzelnd zugesehen hatte, wie die Reporter von RTL und France 2 und BBC und ORF und vielen weiteren Fernsehanstalten aus aller Welt jeden einzelnen Pass bewerteten, den Stammbaum eines jeden Spielers und dessen Schoßhundes vorlasen und – ganz wichtig! – alle 15 Minuten summarisch berichteten, was sich in den Köpfen der Trainer Ronald Koeman und Joachim Löw abspielte. Nach 45 Minuten glühten unsere Ohren, und wir schlossen die Augen, weil wirklich jeder Quer- und Rückpass der Holländer und jedes Dribbling der forschen Deutschen detailliert reportiert wurden.

Nach 15 Minuten – Leroy Sané hatte soeben etwas vollbracht, was im deutschen Fußball ein bisschen in Vergessenheit geraten war, und das 1:0 erzielt – fiel nach einem tiefen Schnaufer des Reporters erstmals das Wort „Wende“. Nach 34 Minuten und Serge Gnabrys 2:0 gruben die Männer am Mikrofon das verschollen geglaubte Wort „Weltklasse“ aus ihrem Reisekoffer aus, um in der Halbzeitpause im Expertengespräch die ersten Hoffnungen auf den EM-Titelgewinn im nahen Jahr 2020 zu wecken.

Ab der 48. Minute verstummte das Freudengeheul abrupt, denn Matthijs de Ligt hatte das 1:2 geschossen. Und als Memphis Depay nach 63 Minuten der Ausgleich gelungen war, wurden – mein Papagei überspitzt jetzt ein bisschen – „ernste Zweifel daran laut, dass die Löwlinge das Seuchenjahr 2018 jemals würden überwinden können“. Der Neuaufbau werde lange dauern, vielleicht jahrelang. Ob er mit diesem Trainer möglich sei, wurde von Minute zu Minute ungewisser, und die Holländer, die immer schon Weltklasse waren, dies aber nicht zeigen wollten – weshalb sie bei den letzten großen Turnieren gerne gefehlt hatten – wurden zu künftigen Europa- und Weltmeistern erklärt.
Dann schoss Nico Schulz in der 90. Minute das 3:2, ein bisschen wie Helmut Rahn 1954 oder Hans Krankl 1978 – und plötzlich waren unsere Reporter wieder fröhlich und sich so sicher wie nie zuvor, dass Fußball-Deutschland den besten Nachwuchs aller Zeiten hat. Man müsse ihn halt nur spielen lassen...

Unser Kollege war etwas weniger emotional, sondern hat seine Beobachtungen mit flinken Fingern in die Tasten gehackt. Erst dann hat er sich gefreut, ein Soda getrunken, ist spazieren gegangen und hat sich verliebt. In Amsterdam – die Ehefrau muss sich keine Sorgen machen.

Aus: RNZ vom 30. März 2019


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