Über das Spiel SC Neuenheim gegen TSV Handschuhsheim während der Coronavirus-Pandemie
Im Spielplan der Rugby-Bundesliga Süd/West steht: 9. Mai 2020, 14. und letzter Spieltag, SC Neuenheim gegen TSV Handschuhsheim. Da die Saison wegen des umtriebigen Coronavirus seit Anfang März ruht, sind die Anhänger des deutschen Vizemeisters TSV und den Aufsteigers und Tabellenvierten SCN heute ausnahmsweise nicht von Nervenzusammenbrüchen bedroht. Das Derby im Heidelberger Norden, dem Denis Frank in seinem Buch „111 Gründe, Rugby zu lieben“ (Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf) das ganze 46. Kapitel gewidmet hat, fällt aus.
Keine langen Warteschlangen also vor dem Eingang zum „Museumsplatz“ an der Tiergartenstraße, keine akribische Vorbereitung der Spieler, kein Tüfteln an der Taktik durch die Trainer Mark Kuhlmann und Christopher Weselek beim TSV oder Alexander Widiker und Clemens von Grumbkow beim SCN – die Vier waren Kameraden in der Nationalmannschaft und verstehen sich eigentlich ganz gut. Die Krise gab dem Reporter die Gelegenheit, mal vor der „heute-show“ zu Bett zu gehen, noch ein bisschen zu lesen und entspannt zu entschlummern. Es wurde eine heiße Nacht.
Denn kaum war der erste tiefe Schnaufer getan, laufen die beiden Teams, begleitet von den Kindern aus der U8 und U10, auf das Spielfeld, und rechts und links der Arena drängeln sich die 1200 Zuschauer, die bei Rugbyspielen in Heidelberg nur dann kommen, wenn „Neiene“ gegen „Hendesse“ spielt, wenn zwei Vereine gegeneinander antreten, deren Fans hübsche Kosenamen für die Gegner haben. Da machen sich die „Angler“ zum Spiel gegen die „Erdbeerpflücker“ bereit, und bevor der Schiedsrichter den Fight freigibt, rufen die „Königsblauen“ hurtig noch „Nur Neuenheim!“ und die Weißen mit dem blauen Brustring des Ritters Hans von Handschuhsheim beschwören ihr Wappentier: „Löwen, Löwen...!“
Seit ein paar Leichtathleten, Fußballer und Handballer 1949 die TSV-Rugbyabteilung gegründet haben, bekämpfen sich die beiden Teams zwei, drei Mal im Jahr, immer knallhart und meistens fair, und seit Menschengedenken ist es keinem der Kontrahenten je gelungen, den Nachbarn vernichtend zu schlagen. Im deutschen Pokalendspiel 2016 siegte der SCN beim TSV mit 16:14, in der Vorrunde der laufenden Saison hatten die Löwen mit 23:19 die Nase vorn. Heute ist es wieder superspannend, so dass die Zuschauer beim 7:7 in der Halbzeitpause reichlich Diskussionsstoff haben.
Unter den Zuschauern auf der Sonnenseite steht der Sportprofessor Manfred Zugck, der sich auch im Raufen mit dem Plastikei auskennt, und rätselt mit seinem Kollegen Günter Friedel, warum die so treffsicheren TSV-Kicker Nikolai Klewinghaus und Benjamin Olouch drei günstig liegende Straftritte nicht zum Goal treten wollten. Immerhin hat der Spezialspielzug – Gasseneinwurf, gemeinsames Drücken, Versuch! – wieder einmal perfekt geklappt, so dass der TSV nach Olouchs Erhöhung von ganz außen mit 0:7 in Führung gegangen ist. Auf der Schattenseite gerieten die SCN-Frauen in Verzückung, als Spielmacher Mondli Nkosi – der gewitzte Mann kam aus Südafrika, sah und heiratete – wie ein Hase zwischen Erdbeerpflanzen durch die Abwehrreihen steppte und seinen Versuch selbst erhöhte.
Halbzeit, Gelegenheit zu taktischen Überlegungen, ein nasser Schwamm im Genick und ein Schluck aus der Elektrolytpulle erfrischen die vor Anstrengung und Erregung dampfenden Spieler. Es ist schon etwas dran, wenn Denis Frank auf Seite 86 schreibt, dass „Handschuhsheim seit jeher für sturmbetontes ehrliches Rugby, den harten Kampf und den unbedingten Willen steht. Neuenheim dagegen spielte schon immer mit ein wenig mehr Flair und zog schon früh Topspieler aus dem Ausland an sich. So treffen beim Derby immer auch zwei gänzlich verschiedene Spielstile aufeinander.“ Ist das SCN-Spiel unehrliches Rugby?
Natürlich hatten die Handschuhsheimer auch großartige Dreiviertel wie Kuno Birk, Ebi Megerle, Manfred Friedel, Otto Haaß oder den Südafrikaner Karl Seele, der Beine hatte wie Naomi Campbell und rennen konnte wie eine Gazelle. Und den SCN-Stürmern Rolf Groß, „Baum“ Hölzel, Dieter Uhrig, Hans Winkenbach oder den Trick-Brüdern stahl auch keiner den Ball.
Da der Verein schon 1902 gegründet wurde, hatten die deutschen Meister von 1912 natürlich früh Gelegenheit, weiträumig auf ihr Können aufmerksam zu machen. Sie setzten schon 1914 in ihrem zweiten deutschen Endspiel die Franzosen Emile Boyer und Robert Thierry ein, die dann bis 1918 auf einem ganz anderen Spielfeld gegen ihre deutschen Kameraden kämpfen mussten. Doch auch in der Meistermannschaft des TSV von 1957 stand mit dem Spielmacher Jean Batz ein Franzose – der auch schon 1949 mit dem SCN Champion gewesen war.
Nun wird die zweite Halbzeit angepfiffen, am Kiosk von Enzo Scionti haben sich die Fans mit Wurst, Pizza und Erfrischungen gestärkt. Der SCN wechselt den baumlangen Jakob Schneider ein, der ein bisschen müde wirkt, nachdem er bei einem Hendsemer Landwirt als Erntehelfer eingesprungen war. Die Neuen im TSV-Team sind frischer. Sie jobben in der „Bar Centrale“ am Neuenheimer Marktplatz, die wegen des fiesen Virus seit Wochen geschlossen ist.
Der TSV-Sturm, der auf dem Können der massiven Nationalspieler der Vergangenheit – auf Helmut und Hans-Joachim Schmitt, auf Gustav Dörzbacher, Arno Blesch, Helmut Kücherer, Peter Heller, Marcello Audibert-Arias, Jens Schmidt und Alexander Pipa – aufbauen kann, gewinnt ein leichtes Übergewicht und geht durch Gregor Hartmanns Versuch, den Klewinghaus erhöht, mit 7:14 in Front.
Doch Mondli Nkosi, Luke Wakefield und Luca Hoffmann nehmen sich ein Beispiel an ihren listigen Vorfahren – an Fritz Sing, Willi Kohlhammer, „Jack“ Baumgärtner und Hans Gieding, an Manfred Kohlweiler, Martin Frauenfeld, Günter Schatz und Kay Kocher. Sie lassen die „Quetsch“ blitzschnell von einer Seite zur anderen laufen, bis Sam J. Harris in die Lücke und unter die Malstangen sprintet und Mondli Nkosi die zwei Erhöhungspunkte besorgt: 14:14, die Atmosphäre auf und außerhalb des Platzes ist explosiv.
Plötzlich, um 4.47 Uhr, dringt das Morgengebet eines Amselpärchens in meinen Schlaf, und als der Kolkrabe, der eine Taube aus dem Garten der Nachbarin umwirbt, mit seinem Keckern beginnt, ist der schöne Traum vom Rugby-Derby am 9. Mai 2020 zu Ende. Ich stehe gleich auf, denn dieser Bericht muss noch schnell in die Zeitung, und beim Zähneputzen überlege ich, ob der Rabenbräutigam ein Nachfahre von Jakob sein könnte. So nannten wir einen „Krabb“, der sich bei Derbys ohne Scheu unter die Zuschauer mischte und sogar auf der Klubhaus-Terrasse wohlfühlte. Kein Wunder: SCN-Jugendwart „Itter“ Ehhalt, der im Handschuhsheimer „Atzelhof“ aufgewachsen war, bewirtete das Federvieh mit Brotstückchen, die er in Cognac gebadet hatte. Es war echte Liebe zwischen einem Vogel aus Neuenheim und einem nach Neuenheim konvertierten Handschuhsheimer.
Auch daran sei erinnert an einem Samstag, an dem nicht gespielt wurde und an dem auch niemand eine Niederlage beweinen musste...
Claus-Peter Bach am 9. Mai 2020 in der Rhein-Neckar-Zeitung
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