Samstag, 24. Juli 2021

Die Grinsekatze ist in Hochform

Kritisch ferngesehen (I)

Schon Oma wusste, dass man auf dem heimischen Sofa die schönsten Erlebnisse haben kann. „Dass ich das noch erleben darf!“, seufzte die 90-Jährige, als Hans-Joachim Kulenkampff in „Einer wird gewinnen“ seine Spielkameradinnen aus acht Ländern auf die Schippe nahm. Mein Papagei und ich haben uns, obwohl der Sommer ausgebrochen ist, auch auf das Kanapee gekuschelt, denn es ist Olympia.

 

Dass die Spiele in Tokio begonnen haben, sehen Sie, liebe Leserin, lieber Leser und liebes Leserlein, daran, dass Ihnen Jessy Wellmer schon vormittags begegnet. Die forsche Grinsekatze der ARD startete furios durch und hatte schon am Tag vor der Eröffnungsfeier die sechsfache Olympiasiegerin Isabell Werth (mit Pferdeschwanz, aber ohne Ross) als Studiogast. Die erfolgreichste Dressurreiterin aller Zeiten hörte sich die fünf, sechs Fragen der Moderatorin höflich an, beschied aber immer wieder, dass sich „diese Frage nicht stellt“ oder „so nicht stellt“. Olympia ohne Zuschauer: „Wäre es da nicht besser gewesen, zu Hause zu bleiben?“ Das hat sich Isabell Werth natürlich nicht gefragt, denn sie ist Profisportlerin, und Olympia ist der wichtigste Wettkampf des Jahres. Ob es denn nicht schwierig sei, am frühen Morgen aufzustehen und die Pferde zu füttern, um sodann den ganzen Tag lang auf den Grand Prix oder Grand Prix Spécial warten zu müssen? Nein, das sei sie gewohnt, so sei das immer, Tag für Tag, jahrein, jahraus.

 

Erst gegen Ende der Unterhaltung merkte mein Papagei auf. Man habe, verriet die Rittmeisterin, die edlen Vierbeiner paarweise miteinander bekannt gemacht, „sie konnten sich beschnuppern“. Die frisch verliebten Pferdepärchen wurden dann in gemeinsame Boxen gelockt, in denen sie den 18-stündigen Flug nach Japan allesamt gut überstanden hätten. „Sieh mal einer an!“, freute sich mein Papagei über so viel Menschlichkeit in der olympischen Fauna. Damit er die vielstündigen Übertragungen aus Tokio gut durchhalten kann, hat mein Papagei übrigens den Jod S11-Körnchen abgeschworen. Er knabbert jetzt Kürbiskerne, das ist knackiger und gut für die Prostata.

 

Kaum hatte Jessy Wellmer die zuversichtliche Isabell Werth mit einer Plüsch-Grinsekatze, dem Maskottchen dieser Spiele, in den olympischen Ernst entlassen, machte sie sich gemeinsam mit Frank Busemann und Julius Brink auf die Suche nach dem olympischen Geist. Der war dem Zehnkampf-Zweiten 1996 in Atlanta kurz begegnet, und der Beachvolleyball-Olympiasieger von 2012 in London erlebte das Phänomen auf dem Paradeplatz der königlichen Reiterei, als 12 000 Fans seine Goldmedaille feierten. Doch kann es Geisterstunden ohne Zuschauer in den Sportstätten geben?

 

Mit detektivischen Spürsinn erkundete Jessy Wellmer, warum in der ersten Spielhälfte von Mexiko gegen Frankreich und Neuseeland gegen Südkorea keine Tore gefallen waren. „Ob es an der Hitze liegt?“, stellte sie eine weitere kühne Frage in den Raum. Doch Brink und Busemann waren sich einig: Hitze ist für Sportler eher gut.

 

Claus-Peter Bach am 24. Juli 2021 in der Rhein-Neckar-Zeitung



Schneller schlauer mit der Rhein-Neckar-Zeitung! 

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