Vor 50 Jahren fanden in Heidelberg die XXI. Weltspiele der Gelähmten statt
Dass Bundespräsident Gustav Heinemann die XXI. Weltspiele der Gelähmten vor 50 Jahren, am 1. August 1972, in Heidelberg eröffnen durfte, haben wir zwei Männern zu verdanken, die sich nicht gut leiden konnten. Der Dortmunder Basketballer und Feldhandballer Willi Daume (1913 - 1996), Präsident des Deutschen Sportbundes (DSB) und des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) und damit im deutschen Sport allmächtig, hatte bereits 1968 barsch verkündet, dass die Wettkämpfe der Behindertensportler 1972 nicht nach den Olympischen Spielen in München ausgetragen werden könnten – wie es 1960 in Rom erstmals der Fall gewesen war.
Die Stadt München wollte Olympia flugs refinanzieren und die Wohnungen im Olympischen Dorf sofort nach der Schlussfeier verkaufen. Daume, Teilnehmer an den Olympischen Hitlerspielen 1936 in Berlin, ließ überhaupt nicht mit sich reden und Sir Ludwig Guttmann, den deutsch-britischen Motor der paralympischen Bewegung, rüde abblitzen. „Privatwirtschaftliche Zwecke“ waren wichtiger als die ordentliche Unterbringung der behinderten Athletinnen und Athleten in der „Weltstadt mit Herz“.
So ließ Ludwig Guttmann, 1899 im heute polnischen Toszek geboren und in Breslau und Freiburg zum Neurologen ausgebildet und Gründungsdirektor der Stoke Mandeville-Klinik für die Behandlung Gelähmter und Kriegsversehrter in der englischen Grafschaft Buckinghamshire, seine beruflichen Kontakte zu Professor Dr. Volkmar Paeslack (1925 - 1998) spielen, der an der Orthopädischen Uniklinik in Heidelberg-Schlierbach das Rehabilitationszentrum für Querschnittsgelähmte leitete und eng mit Dr. Werner Boll (1919 - 2007), dem Direktor der Stiftung Rehabilitation am Berufsförderungswerk in Wieblingen, verbunden war.
Die drei Herren fanden, dass Heidelberg mit seinem namhaften Sportinstitut, dem weitläufigen Uni-Stadion und dem kurz vor der Fertigstellung stehenden Bundesleistungszentrum für Basketball und Schwimmen über geeignete Sportstätten verfügte, und als Paralympisches Dorf konnte das BFW dienen. Das fand auch Heidelbergs Oberbürgermeister Reinhold Zundel: „Das machen wir“, entschied er in der ihm eigenen entschlossenen Art. Dem OB in wichtigen sportlichen Angelegenheiten zu widersprechen, wagte damals niemand.
Bis zum 10. August 1972 fanden im Neuenheimer Feld 187 Wettkämpfe im Bogenschießen, Bowling, Darts, Gewichtheben, Rollstuhl-Basketball, Rollstuhl-Fechten, Schwimmen, Snooker, Tischtennis und in der Leichtathletik statt. 984 Sporttreibende aus 43 Nationen kämpften um Medaillen. Die deutsche Delegation war erwartungsgemäß mit 80 Teilnehmenden am größten – und zur Freude der vielen tausend begeisterten Gastgeber auch am erfolgreichsten. 31 Nationalteams durften Medaillen mit nach Hause nehmen. Tschechien und Ungarn je eine Bronzemedaille, Deutschland auf Rang eins des Medaillenspiegels 67 Plaketten: 28-mal Gold, 17-mal Silber und 22-mal Bronze. Die USA hatten zwar sieben Medaillen mehr gewonnen, landeten aber mit „nur“ 17-mal Gold, 27-mal Silber und 30-mal Bronze auf Platz zwei vor Großbritannien (52 – 16/15/21).
Erfolgreichster Athlet war Edmund Weber vom Rollstuhl-Sport-Verein Frankfurt, der jeweils Gold im Kugelstoßen, Diskuswerfen und Speerwerfen und Bronze im Tischtennis an den Main holte. Die Wettkämpfe von Heidelberg waren echte Weltspiele, denn außer den europäischen Behindertensportlern nahmen viele Athletinnen und Athleten aus Afrika (Kenia, Rhodesien/heute: Namibia, Südafrika), Amerika (Argentinien, Jamaika, Kanada), Ozeanien (Australien und Neuseeland) sowie Asien (Hongkong, Indien, Japan und Südkorea) teil.
Der Autor war als 15-jähriger Zuschauer tagtäglich bei den Leichtathleten und Bogenschützen und am Abend bei den Rollstuhl-Basketballern in den überfüllten Hallen des Sportinstituts und des BLZ. In Erinnerung ist der Basketball-Knüller zwischen den USA und Israel – ein unvergessliches Match, über das auch der Sporthistoriker Daniel Westermann in seinem 2014 in der Schriftenreihe des Heidelberger Stadtarchivs erschienenen Buch berichtet hat.
Eberhard Bucke, ein junger Sportlehrer am Bunsengymnasium und Dozent am Sportinstitut, hatte seine Schüler (damals gab es noch keine Mädchen am Bunsen) zu den Wettkämpfen eingeladen und zählte zum 31-köpfigen Organisationsteam, das in acht Gruppen von lauter Fachleuten geleitet wurde: Der 2021 verstorbene Roland Vierneisel führte als Akademischer Direktor des Instituts die Sport-Gruppe an. Dr. Hans-Joachim Fichtner (Medizin), Gerhard Fritz (Unterkunft und Verpflegung), Jan Albers (Öffentlichkeitsarbeit), Günther Handschuh (Transporte), Niels Kroesen (Kulturelles) und Jörg Schmekel (Organisation) hießen die anderen Verantwortlichen, das Sportamt mit Walter Ochs und das OB-Referat mit Dieter Bächstädt leisteten unbürokratische Unterstützung. Nach Zundels Motto wurde nicht lange gefragt, es wurde gemacht.
Am Tag vor der feierlichen Eröffnung durch das Staatsoberhaupt fuhr den Organisatoren allerdings der Schreck in die Glieder. Freche Diebe hatten aus den von der städtischen Schreinerei errichteten rollstuhltauglichen Toilettenhäuschen die Kloschüsseln gestohlen. Doch Ersatz war schnell besorgt, und die Weltspiele, die als perfektes Ereignis in Erinnerung blieben, konnten pünktlich beginnen.
Zur Person: Sir Ludwig Guttmann
Ludwig Guttmann, geboren am 3. Juli 1899 im oberschlesischen Tost, gilt als Begründer der paralympischen Bewegung. Er nimmt ab 1917 als Hilfssanitäter am Ersten Weltkrieg teil und studiert ab 1918 in Breslau Humanmedizin. 1919 wechselt er an die Uni Freiburg und wird Fechter. 1923 wird er als Neurologe und Neurochirurg am Wenzel Hancke-Krankenhaus in Breslau angestellt und am 30. Juni 1933 aufgrund seines jüdischen Glaubens entlassen. Er wird Klinikleiter des Jüdischen Krankenhauses in Breslau, ehe er 1939 mit Ehefrau Else als Forschungsstipendiat nach Oxford emigriert. 1944 wird er Direktor des neu gegründeten Zentrums für Rückenmarksverletzungen in Stoke Mandeville/Buckinghamshire und 1947 britischer Staatsbürger. 1952 organisiert er die I. Stoke Mandeville Games mit Patienten der britischen und niederländischen Streitkräfte und 1954 die ersten Wettkämpfe mit deutschen Teilnehmern. 1963 wird er Präsident von Behindertensport-Verbänden und 1966 von Königin Elisabeth II zum Ritter geschlagen. Sir Ludwig, der am 18.März 1980 stirbt, erhält 1972 in Heidelberg von Bundespräsident Gustav Heinemann das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern.
Im Bogenschießen zeigten die Athletinnen und Athleten 1972 in Heidelberg großartige Leistungen. Archivfoto
Das Standbild von Sir Ludwig Guttmann vor dem Krankenhaus in Stoke Mandeville. Archivfoto