Kritisch ferngesehen (IV)
Wer bei den Fernsehübertragungen von den Olympischen Spielen 2020 in 2021 so aufmerksam zuschaut wie mein Papagei, entdeckt Erstaunliches. Weil sich auch in Tokio das Coronavirus hartnäckig gegen alle möglichen Desinfektionsmittel wehrt und selbst Meister Proper ziemlich machtlos ist, tragen die Sporttreibenden und ihre Betreuenden ebenso wie die Kampfrichtenden, Zuschauenden und Reportierenden die vorgeschriebenen Mund-Nasen-Bedeckungen, und zwar ganz unabhängig davon, ob sie weiblich, männlich oder divers sind. Mein Papagei, das muss ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser und liebes Leserlein, ganz unverblümt berichten, war geradezu entsetzt, dass Dalera, Bella Rose und Showtime sämtliche Hygienevorschriften missachtet haben und die Goldmedaille in der Dressur ohne Coronamaske gewonnen haben. „Diese stolzen Rösser können sich wohl alles leisten“, schimpfte mein Papagei.
Mit Mund-Nasen-Bedeckung und damit vollkommen regelgerecht kommentierte Carsten Sostmeier die Reitwettbewerbe für die ARD und hat sich – wie 2016 in Rio – auch bei diesen Olympischen Spielen den Medienpreis meines Papageis verdient. Der 62-jährige gelernte Bankkaufmann aus Bad Soden-Salmünster gilt als der Poet unter den Sportreportern. Den Ritt der deutschen Dressurreiterin Dorothee Schneider auf Showtime kommentierte er - leise näselnd – sinngemäß so: „Die Schenkel der Reiterin umfangen gefühlvoll den Leib des Pferdes, so dass dieses gehorsam die Ohren spitzt und mit dem Schweif wedelt…“ Honi soit qui mal y pense – uns ist es jedenfalls ein Vergnügen, aus Sostmeiers Werken zu rezitieren.
Im Turnen hat sich viel verändert. Turnerinnen nehmen sich das Recht heraus, mit langen Hosen zu performen und haben dafür ebenso unseren Beifall verdient wie die US-Amerikanerin Simone Biles. Die beste Turnerin aller Zeiten spürte unangemessenen Erfolgsdruck und eine innere Schwäche und nahm sich die Freiheit, das Mannschaftsfinale abzubrechen und zum Mehrkampffinale nicht anzutreten. „Respekt!“, klatschte mein Papagei mit den Flügeln, der natürlich weiß, dass alle Amerikaner und insbesondere die Sponsoren der Athletin Gold, Gold und nichts anderes als Gold erwartet hatten. Zum Abschluss der Gerätefinals gewann sie Bronze am Schwebebalken – die siebte Olympiamedaille der 24-Jährigen ist für sie und für uns Gold wert.
„Turnküken“ gibt es bei Olympischen Spielen übrigens nicht mehr, seit der Weltverband entschieden hat, dass man 16 Jahre alt sein muss, um teilnehmen zu dürfen. Dass man auch als ausgewachsene Frau beste Leistungen zeigen kann, bewies die vor 27 Jahren im Heidelberger St. Elisabeth-Krankenhaus gesund zur Welt gekommene Eli Seitz, die für Stuttgart turnt und in Tokio mit Platz fünf am Stufenbarren überzeugte.
Ein bisschen älter als Seitz ist Oksana Chusovitina, die in Tokio – nach ihren achten Olympischen Spielen und im Alter von 46 Jahren – entschieden hat, ihre erfolgreiche Laufbahn zu beenden. Die 1,53 Meter große und 44 Kilogramm schwere Turnerin war 1991 Weltmeisterin am Boden und mit dem Team und 2003 Weltmeisterin im Sprung und feierte 1992 in Barcelona den Olympiasieg mit dem Team. Oksana Chusovitina startete, weil die Weltpolitik es so wollte, bei Olympia für vier Nationen: Zunächst für die Sowjetunion, dann für die GUS, später für Usbekistan, von 2006 bis 2013 für Deutschland und nun wieder für Usbekistan. Nach Deutschland kam sie ihres damals dreijährigen Sohnes wegen, der in der Uniklinik Köln wegen einer lebensgefährlichen Krankheit behandelt werden musste. Damals turnte die Mama in der Bundesliga für Toyota Köln.
In Zeiten strenger Dopingkontrollen, die freilich während der Pandemie nicht überall durchführt werden konnten, sind Weltrekorde seltener geworden. Wohlmeinende Kommentatoren führen Bestzeiten im Radsport, im Schwimmen und in der Leichtathletik hauptsächlich auf schnelle Bahnen, weiches Wasser und technische Verbesserungen an den Schuhen, Rädern, Badekappen und Helmen zurück, denn im Hochleistungssport besteht die Grundüberzeugung, dass alle Akteure hundertprozentig gut und edel sind.
Ältere Menschen werden sich daran erinnern, dass bei den Olympischen Spielen 1972 in München der deutsche Bahnrad-Vierer mit Jürgen Colombo (Stuttgart), Günter Haritz (Leimen-St. Ilgen), Udo Hempel (Düsseldorf) und Günther Schumacher (Rostock) die Goldmedaille gewonnen haben. 4:22,14 war die Siegerzeit, und Silbermedaillengewinner DDR kam nach 4:25,25 Minuten ins Ziel. 2021 in Tokio schlug sich der deutsche Bahnvierer ebenfalls prächtig und stellte mit 3:48,86 Minuten einen neuen deutschen Rekord auf. Diese Fabelzeit reichte für Domenic Weinstein (Villingen), Leon Rohde (Hamburg), Theo Reinhardt (Berlin) und Felix Groß (Feuchtwangen) aber nur zu Platz sechs. So schnell ist die – diesmal von einer deutschen Schreinerei gebaute - Fichtenholz-Bahn inzwischen geworden. Sollte Annalena Baerbock Bundeskanzlerin werden, ist allerdings – mindestens europaweit – mit einem Tempolimit zu rechnen.
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