Zur Erinnerung an Kurt Bendlin, der 1967 im Uni-Stadion einen Zehnkampf-Weltrekord aufstellte
Der Begriff „Klimawandel“ war am 13. und 14. Mai 1967 noch nicht geläufig, doch herrschten im Stadion der Universität Heidelberg im Neuenheimer Feld 33 Grad Celsius im Schatten. Das war den besten deutschen Zehnkämpfern, die Bundestrainer Friedel Schirmer drei Jahre nach dem Olympiasieg Willi Holdorfs (Bayer Leverkusen) in Tokio zu einem Leistungstest eingeladen hatte, gerade Recht. Denn die Hitze verringerte das Verletzungsrisiko, gute Leistungen waren erwartbar, weshalb am ersten Wettkampftag rund 500 Leichtathletik-Freunde und am zweiten Tag gut 1500 Zuschauer auf der neu errichteten Tribüne Platz nahmen – unter ihnen ein Sextaner aus dem Bunsengymnasium, der von seinem jungen Sportlehrer Eberhard Bucke neugierig auf Zehnkampf gemacht worden war.
Die leitenden Kampfrichter Harald Schmidt und Bruno Vogt vom Badischen Leichtathletik-Verband waren nicht so streng, und auch die Organisatoren Roland Vierneisel als Leichtathletik-Abteilungsleiter des USC Heidelberg und Peter Knebel gestatteten den jungen Fans jederzeit, nah bei den Athleten zuzuschauen. So saß der Sextaner fünf Stunden lang an der Barriere zur Stabhochsprung-Anlage und holte sich einen tüchtigen Sonnenbrand. „Du hättest halt eine Kappe aufziehen sollen“, gab Lehrer Bucke montags einen guten Rat – das war zu spät.
Peter Knebel, damals 25 und heute 82 Jahre alt und 1967 erst seit kurzem Dozent am Heidelberger Sportinstitut, wirkte auch als Stadionsprecher und bemühte sein bestes Hochdeutsch, um die Zuschauer mit Zeiten, Höhen, Weiten und Punkten korrekt zu informieren. „Als ich am zweiten Tag sagte, dass es vielleicht eine Weltbestleistung werden könnte, haben mich die älteren Heidelberger arg gelöchert: Warum eine Weltbestleistung und kein Weltrekord?, fragten viele Zuschauer“, erinnert sich Peter Knebel: „Dabei gibt es Weltrekorde doch erst, wenn der Weltverband eine Weltbestleistung offiziell anerkannt hat.“
Von Anfang an zeigte der aus Westpreußen stammende und für Leverkusen startende Kurt Bendlin, der 1965 erstmals deutscher Meister geworden war, starke Leistungen. Der 24-jährige Student der Deutschen Sporthochschule Köln, der 1966 zwei Meniskusoperationen zu verkraften hatte, verbesserte sich über 100 Meter um 0,2 auf 10,6 Sekunden und sprang 7,55 Meter weit, ehe er einer frischen, im Krafttraining erlittenen Schulterverletzung Tribut zollen musste und im Kugelstoßen mit 14,50 Metern um 1,57 Meter unter seinen Möglichkeiten blieb. Außerdem, so sagte Kurt Bendlin 2017 zur RNZ, habe ihn beim Stoßen „das unangenehme Surren einer SWR-Kamera gestört.“ Im Hochsprung schaffte er 1,84 Meter im ersten Versuch, folgte aber wegen des Verletzungsrisikos dem guten Rat von Trainer Bert Sumser und Olympiasieger Willi Holdorf und verzichtete auf weitere Sprünge.
Nach 47,9 Sekunden über 400 Meter und 4214 Punkten nach fünf Disziplinen waren die Fans aufgeregt, und die Medien rochen die Sensation. Auf Sumsers Wunsch brachte Knebel den führenden Athleten in der Gutsschänke im Grenzhof unter, während alle anderen Sportler im Hotel Kurfürst nahe der Stadtbücherei nächtigten, wo auch die neugierigsten Reporter ihr Lager aufgeschlagen hatten. „Der Berichterstatter einer großen Boulevard-Zeitung hat mir 100 Mark geboten, wenn ich ihm verraten würde, wo Kurt Bendlin ist. Aber ich habe dichtgehalten“, lächelt Peter Knebel – 100 Mark wären für einen jungen Familienvater im zweiten Berufsjahr ein leckeres Zubrot gewesen…
So durfte Kurt Bendlin ruhig schlafen und ab fünf Uhr auf dem Dorfplatz seine Gymnastik und ein paar Speerwurfübungen absolvieren, so dass er mit 14,8 Sekunden über 110 Meter Hürden – seiner vierten Bestleistung – ausgeruht und bärenstark in den zweiten Tag starten konnte. Es folgten 46,31 Meter mit dem Diskus und für ihn eher schwache 4,10 Meter im Stabhochsprung. Mit 74,85 Metern im Speerwerfen erwies sich Kurt Bendlin als ebenso nervenstark wie über 60 Jahre später der Mainzer Weltmeister Niklas Kaul, und im 1500-m-Lauf hielt er die Konkurrenten Werner Graf von Moltke und Hans-Joachim Walde sicher in Schach.
8319 Punkten waren neuer Weltrekord und 89 Punkte mehr als die bisherige Bestmarke des US-Amerikaners Russ Hodge. Von weiteren Muskel- und Sehnenverletzungen gebeutelt, erreichte der neue „König der Athleten“ dieses Leistungsniveau nie mehr. Bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-City gewann Kurt Bendlin hinter Bill Toomey (8193 Punkte) und dem Mainzer Hans-Joachim Walde (8111) mit 8064 die Bronzemedaille.
Am 29. August ist Kurt Bendlin, Deutschlands zweiter Zehnkampf-Weltrekordler nach Heinrich Sievers (Eutin, 1934, 7900 Punkte), im Alter von 81 Jahren in Paderborn gestorben.
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