Begegnung mit Dirigent Christian Thielemann in Bayreuth
Christian Thielemann, geboren am 1. April 1959 in Berlin-Wilmersdorf, ist Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden und der renommierteste Orchesterleiter in Deutschland. Bei den 110. Richard-Wagner-Festspielen in Bayreuth hat der in Potsdam-Babelsberg lebende Porsche-Fahrer seit 2000 alle zehn Wagner-Werke dirigiert, die nach dem Willen des Komponisten (1813 – 1883) im Festspielhaus gespielt werden dürfen. Dies war zuvor nur dem Österreicher Felix Mottl (1856 – 1911) vergönnt, der sich ab 1880 als Hofkapellmeister in Karlsruhe einen Namen gemacht hatte.
„Freunde treffen Freunde“ heißt eine Veranstaltungsreihe des Vereins „Gesellschaft der Freunde von Bayreuth“. Kürzlich war Christian Thielemann im Saal der Pianoforte-Fabrik Steingräber in Bayreuth zu Gast und gab Einblicke in sein Leben und Schaffen.
Christian Thielemann, Sohn einer Apothekerin und eines leitenden Angestellten in der Stahlindustrie, nahm ab dem fünften Lebensjahr Klavierunterricht und studierte Bratsche. „Der Bratsche bin ich nach wie vor sehr zugeneigt. Sie verleiht den Mittelstimmen eines Orchesters Würze“, sagt Thielemann, der seit 2018 in Bayreuth den „Lohengrin“ dirigiert und der von der internationalen Musikkritik für den idealen Klang der Streicher hoch gelobt wird. Sein „Lohengrin“ erfüllt unter allen Aspekten – Sängerinnen und Sänger, Dirigat, Orchester, Chor, Bühne und Kostüme – Bayreuths Anspruch, Weltklasse zu bieten.
Am Tag nach dem Gespräch im Steingräberhaus dirigierte Christian Thielemann zum 181. Mal im Festspielhaus. Sein Anspruch, mit seinen Musikerinnen und Musikern stets im Bestform zu sein, bedeutet für ihn: „Heute Abend kein Bier, kein Wein und früh zu Bett.“ Nur dann könne man die Belastung im verdeckten Orchestergraben durchstehen: „Das Orchester leistet Übermenschliches. Wenn draußen über 30 Grad herrschen, haben wir unten locker 37 Grad, und alle außer den Bläsern müssen Corona-Masken tragen, weil wir so eng beieinander sitzen und uns vor Infektionen schützen müssen. Das heißt natürlich: Die Säfte auffüllen und ganz viel Wasser trinken.“ Bekanntlich tragen die Musizierenden im Festspielhaus nicht Kleid, Anzug, Schlips und Kragen, sondern T-Shirts und kurze Hosen.
Das von Richard Wagner konstruierte Festspielhaus, eine einem Geigenkorpus nachempfundene Holzkonstruktion, ein weltweit einzigartiger Klangkörper, hat es Christian Thielemann, der seine Laufbahn 1978 als Assistent Herbert von Karajans bei den Berliner Philharmonikern und als Korrepetitor an der Deutschen Oper in der Berliner Bismarckstraße begonnen hat, besonders angetan. „Aber: Der Klang ist bei jeder Inszenierung ein bisschen anders. Es kommt darauf an, wie inszeniert wird und was die Bühnenbildner alles aufbauen.“ Der Orchesterklang soll aus dem Graben zur Rückwand der Bühne gehen, dort abprallen und über die Bühne, vermischt mit den Sängerstimmen und dem Chorgesang, zurück in den Zuschauerraum wandern, wo knapp 2000 Besucherinnen und Besucher den einzigartigen Klang genießen möchten. Das heißt: Das Orchester muss mit jedem Ton ein wenig früher dran sein als die Singenden. Nur dann kommen Musik und Gesang gemeinsam, kommt Harmonie im riesigen Geigenkörper an.
Wolfgang Wagner (1919 – 2010), Richard Wagners Enkel, Opernregisseur und bis 2008 Festspielleiter in Bayreuth, hat Christian Thielemann auf seine väterliche Art viele nützliche Tipps gegeben, um mit den Tücken des Hauses zurechtzukommen. 2000 vertraute Wolfgang Wagner ihm seine Inszenierung der „Meistersinger von Nürnberg“ an und hielt sich bei den Proben meistens unsichtbar hinter der Bühne auf. „Zu laut!“ oder „zu langsam!“ schallte es aus dem Dunkel, denn Wolfgang Wagner war ein strenger Chef, der den guten Rat gab, „nicht langsam oder schnell, sondern flüssig zu dirigieren. Durch seine Tipps habe ich mich nie in meiner künstlerischen Freiheit eingeschränkt oder gekränkt gefühlt. Die Verführung, mit Wagners Musik im Graben zu baden, ist in der Tat groß“, bekennt Christian Thielemann, der sich an explizit lobende Worte aus Wolfgang Wagners Mund allerdings kaum erinnern kann: „Er hat uns engagiert, damit wir gemeinsam Erfolg haben. Gelobt hat er selten. Als ihm mal etwas Anerkennendes herausgerutscht ist, hat Katharina gejammert: Mich lobt Papa nie!“
Die Opernregisseurin Katharina Wagner, Jahrgang 1978, ist Wolfgang Wagners Tochter, Urenkelin Richard Wagners und Ururenkelin Franz Liszts. Sie ist seit 2008 Geschäftsführerin der Bayreuther Festspiele. Von 2015 bis 2020 hatte sie Christian Thielemann als musikalischen Direktor engagiert.
Was den Klang anbelangt, macht Christian Thielemann darauf aufmerksam, dass das Live-Erlebnis im Festspielhaus grundlegend anders ist als eine Radio-Übertragung: „Das Festspielhaus ist ein akustisch einmaliger Ort. Die Übertragungen klingen viel gedämpfter, besonders in früheren Jahren, als nur ein Mikrofon im Zuschauerraum hing.“
Thielemann macht sehr deutlich, dass er überhaupt nichts vom Auswendig-Dirigieren hält. „Da man Orchester und Dirigent im Festspielhaus überhaupt nicht sehen kann, ist es ganz normal, mit der Partitur zu dirigieren. Auswendig dirigieren ist Schnickschnack, völliger Mist, auf den man in Bayreuth wirklich verzichten kann“, sagt Thielemann und fügt hinzu: „Natürlich muss man das Stück intus haben. Bayreuth ist für jeden Dirigenten der Lackmustest. Kann ich das? Kommt das rüber?“ Jede Aufführung sei eine neue Herausforderung, man sei jedes Mal gezwungen, mit einer neuen Version zu bestehen. „So wie immer – das darf es in Bayreuth nicht geben“, sagt Christian Thielemann, der während des Dirigats ganz genau spürt, wie das Publikum reagiert. „Manchmal sind die Leute so ergriffen, dass absolute Stille herrscht und nicht einmal das leiseste Hüsteln zu vernehmen ist.“ Das empfindet Christian Thielemann als Glücksmoment, doch auch gegen heftige Zuschauerbekundungen am Ende einer Oper hat er nichts einzuwenden. Er lacht: „Dann ist endlich mal Stimmung in der Bude. Es ist doch schön, wenn die Leute später im ,Wolffenzacher‘ oder in der ,Eule‘ über uns diskutieren.“
Nach den „Meistersingern von Nürnberg“ 2000 übernahm Christian Thielemann in Bayreuth die musikalische Leitung von „Parsifal“ 2001, „Tannhäuser“ 2002, der vier Opern des „Ring des Nibelungen“ in der Inszenierung von Tankred Dorst 2006, des „Fliegenden Holländer“ 2012, „Tristan und Isolde“ 2015 und „Lohengrin“ 2018. 2023 wird es Festspiele ohne Christian Thielemann geben, der das Dirigat eines neuen „Parsifal“ ablehnen musste. „Das ist keine Entscheidung gegen Bayreuth, sondern meiner Verpflichtung in Dresden geschuldet.“
Die Sächsische Staatskapelle, 1548 von Kurfürst Moritz gegründet, wird im nächsten Jahr 475 Jahre alt und als eines der führenden Klangkörper der Welt aus Anlass des Jubiläums eine große Tournee unternehmen. „Ich mochte es keinem Kollegen zumuten, nur für ein Jahr verpflichtet zu werden“, sagt Christian Thielemann, der immer auch an der Auswahl der Interpreten und Musiker mitwirken möchte: „Die Sängerbesetzung muss stimmen, auf Qualität muss man achten. Was ich zu verantworten habe, habe ich zu verantworten. Meinen Beruf nehme ich sehr ernst“, betont er – und dabei lacht er nicht.
Zu seinen Kolleginnen und Kollegen pflegt Christian Thielemann gerne ein freundschaftliches Verhältnis. „Ich besuche aber keine Proben anderer Dirigenten mehr, denn das könnte als Einmischung, als Störung empfunden werden.“ Er besucht aber Konzerte – etwa von Daniel Barenboim, Andris Nelsons oder Herbert Blomstedt. „Da geht man gerne hin, man muss sich ja auch bilden.“ Für Eifersüchteleien in der Musikszene hat er keinerlei Verständnis: „Wenn jemand eifersüchtig ist, hat er nicht genug Arbeit“. Jetzt lacht er wieder.
In seiner Freizeit entspannt er sich nicht mit Wagners Musik: „Ich höre eher BAP, Orgelkonzerte oder Klaviermusik mit Vladimir Horowitz und Artur Rubinstein.“ Mit Orchestern arbeitet Christian Thielemann bevorzugt langfristig zusammen, auch um ganz genau deren Eigenheiten erfahren zu können. „Die Klangtradition eines Orchesters sollte vererbt werden. Darauf achten oft die älteren Musiker, die ihre Tipps an die Jüngeren weitergeben. Wenn die Überlieferung der Traditionen abreißt, gehen diese verloren. Orchester können dann ihre Attraktivität, ihre Einzigartigkeit verlieren“, sagt Thielemann und erläutert: „Man geht ja auch nur in Restaurants, in denen es schmeckt“.
Nach dem „Lohengrin“ mit Christian Thielemann gingen wir zum Abendessen in die „Eule“. Dort hat es schon Richard Wagners Sohn Siegfried (1869 – 1930) geschmeckt. Zur eigenen Bedeutung in der Geschichte der Bayreuther Festspiele sagt Christian Thielemann, einer der Titanen am Pult, mit feinem Lächeln: „Der größte Star ist seit 1883 tot. Wir kommen nur wegen ihm hierher.“