Weil Rugby anders ist
„Früher“, liebe Leserin, lieber Leser und liebes Leserlein, „war auch die Zukunft besser“. Das jedenfalls behauptete Karl Valentin. Da der Münchener Komiker von 1882 bis 1948 gelebt hat, machte er keine Bekanntschaft mit dem Coronavirus und konnte auch nicht in den vielstimmigen Chor der Virologen einstimmen, die seit Monaten vor den von diesem Winzling ausgehenden Gefahren warnen.
Bei „Hart, aber fair“, „Maischberger“, „Lanz“ (allabendlich!), „Anne Will“ und sogar in seriösen Magazinen kämpfen Wissenschaftler bis zur Erschöpfung gegen die irren Auffassungen von Corona-Skeptikern, die – vornehmlich anonym im Internet oder verhüllt bei Demos der krassen Art – glauben machen wollen, das fiese Virus sei „vom Chinesen“ gezüchtet worden, um „den Ami“ auszurotten oder in Ischgl „vom Putin“ ausgesetzt worden, um „die Merkel“ zu ärgern. Karl Valentin hätte dazu bemerkt: „Es wurde schon alles gesagt, aber noch nicht von allen.“
Der Sport hat auf die Bedrohungen weitgehend vernünftig reagiert: Die Fußball- und Basketball-Bundesligen wurden geisterhaft zu Ende gespielt, die Amateurkicker haben wie die Handballer, Eishockeycracks und andere Sportler ihre Saison abgebrochen. Sebastian Vettel und seine Kollegen treiben Lewis Hamilton vor sich her, ohne von ihren Fans ausgepfiffen zu werden – wo keine Zuschauer sind, können sie nicht pfeifen.
Seit ein paar Tagen aber ist mein Papagei doch stark beunruhigt. Zwei harte Entscheidungen sind gefallen: Die Innenminister des Bundes und der Länder waren ausnahmsweise mal einer Meinung und haben Fußball-Bundesligaspiele mit Zuschauern für diesen Herbst untersagt. Und kurz danach hat die Mehrheit der 47 Erst- und Zweitligaklubs im Rugby mehrheitlich entschieden, dass das Ansteckungsrisiko zu groß sei und deshalb 2020 keine Bundesligaspiele mehr stattfinden werden. Bei seinem Urlaubsrundflug über die deutsche Heimat hat mein Papagei die Wut der Fußballfans und die Enttäuschung der Rugbyspieler gespürt: „Da braut sich was zusammen!“
Siebenerrugby als Nothilfe
Während sich die Bosse im Fußball sorgen, wie sie die Attraktivität ihres Geschäfts erhalten und ihre teuren Teams finanzieren können, müssen sich die Klubchefs im Rugby Gedanken machen, wie sie ihre Amateurspieler ohne ernsthafte Wettkämpfe bei der Stange halten. Eine Wettkampfpause bis März 2021 – das wirft jeden Sport zurück, da brauchen wir Karl Valentin gar nicht in die Zukunft schauen lassen.
Man wird, hier wie da, kreativ sein müssen – und klug und vernünftig und verantwortungsbewusst. Corona-Verniedlichende dürfen insbesondere im Rugby keine Stimme haben. Denn Rugby ist anders als Fußball und jedes andere Ballspiel. Während beim Basketball, Handball und Fußball der ballführende Akteur immer versucht, den Verteidiger zu umspielen, ihn auszutricksen oder per Doppelpass zu überwinden (weshalb man von Kontaktsportarten spricht), ist es ein Merkmal des Rugbysports, dass der balltragende Angreifer absichtlich auf den Verteidiger aufläuft, um ihn zu binden und Raum für Angriffsaktionen der Mitspieler zu schaffen. Rugby ist ein Kollisionssport, wie Verbandsarzt Colin Grzanna ganz richtig sagt. Beim Rugby kämpfen Stürmer Schulter an Schulter. Ihr Schweiß vermischt sich im Gedränge. Sie atmen sich aus fünf Zentimentern Entfernung direkt an. Mundgeruch ist eklig. Das wissen auch Ringer und Judoka, die im Herbst ebenfalls keine Kämpfe austragen.
Wer nun meint, Freundschaftsspiele oder ein Cup-Wettbewerb der Sorglosen könnten die Bundesliga im Herbst ersetzen, hat bei all den Corona-Fernsehdiskussionen nichts verstanden. Man kann übrigens auch nicht die Bundesligen pausieren lassen und die Saison der Regional- und Verbandsligen durchführen. Nein, gerade ein Nischensport wie Rugby in Deutschland ist auf Solidarität und kluges Handeln seiner Akteure angewiesen, sonst verliert er jede Reputation. Die wurde gerade durch die Erfolge der Siebenerrugby-Nationalmannschaft mit der Vizeeuropameisterschaft 2018 und dem EM-Titelgewinn 2019 aufgebaut.
Die Traditionalisten des Rugbyspiels werden diese Sätze nicht gerne lesen, doch mein Papagei ist unerbittlich: „Spielt Siebenerrugby, nur in diesem Herbst, aber mit Mann und Maus. Nur so könnt Ihr fit und gesund bleiben!“
Siebenerrugby, seit 2016 ein olympischer Sport, wurde 1883 von Adam Haig „erfunden“, einem Zeitgenossen Karl Valentins. Auch der Metzgergeselle ahnte nicht, dass sein Spiel 2020 während der Coronavirus-Pandemie Hochkonjunktur haben sollte. Weil im schottischen Melrose am Freitagabend, nach der Auszahlung des Wochenlohns, heftig gesoffen wurde, standen tags darauf beim Rugbymatch gegen einen Nachbarort mit Adam Haig nur sieben Spieler für Melrose zur Verfügung. Die anderen hatten Kopfschmerzen und waren zuhause geblieben.
„Das haben sie gut gemacht“, findet mein Papagei.
Claus-Peter Bach am 22. August 2020 in der Rhein-Neckar-Zeitung